TAIZÉ

Frère Alois auf der Ökumenischen Tagung: „2017 - gemeinsam unterwegs“

 

Die Frage, wie wir mit konkreten Schritten „gemeinsam weitergehen“ können, liegt uns in Taizé sehr am Herzen und wird uns auch von den Jugendlichen, die Woche für Woche auf unseren Hügel kommen, immer wieder gestellt. So möchte ich – im Hinblick auf das Jahr 2017 – versuchen, anhand unserer Erfahrungen in Taizé einige Antworten zu geben.

Einheit und Pluralismus

Die ökumenische Bewegung entstand im letzten Jahrhundert vor allem aus dem Anliegen heraus, eine konfessionelle Rivalität in den Missionsländern zu vermeiden. Heute stellt sich die Frage etwas anders, und dies klingt im Thema bereits an: Sind wir Christen in der Lage, die Unterschiede, die zwischen uns bestehen, anzunehmen und mit ihnen gemeinsam weiterzugehen, um auf diese Weise Sauerteig des Friedens unter den Menschen zu sein?

Die Kirche ist der Leib Christi mit einer klaren und sichtbaren Gestalt. Das Evangelium stiftet jedoch eine noch weiterreichende Gemeinschaft: Für Gott bilden alle Menschen eine einzige Familie. Daher stellt sich die Frage: „Wie können wir Christen zeigen, dass Einheit möglich ist, ohne die zwischen uns bestehenden Unterschiede zu leugnen?“ Wenn es uns gelingt, in wahrer Einheit zusammenzuleben und gleichzeitig unseren Pluralismus anzunehmen, werden wir zu einem Zeichen für die Menschheit, die ja ebenfalls nach Einheit strebt.

Die Globalisierung wird heute allerdings von vielen Menschen als Bedrohung empfunden. Die Schaffung größerer Wirtschaftsräume, der Abbau politischer Grenzen, aber auch die Unüberschaubarkeit der weltweiten Migration, machen es vielen Menschen schwer, die Globalisierung positiv zu sehen. Manche haben den Eindruck, ihre Wurzeln zu verlieren oder sehen ihre eigene Identität bedroht. So entstehen Ängste und man beginnt von neuem, sich von anderen abzugrenzen. Dies führt zu Spannungen und kann sogar gewaltsame Konflikte auslösen.

Dies trifft auch für die Christen zu: Obwohl zwischen den Kirchen noch nie so viele Beziehungen vorhanden waren wie heute, gab es auch noch nie so viele unterschiedliche Kirchen und christliche Gemeinschaften. Manchmal wird so getan, als ob man mit verschiedenen Kirchen mehr Menschen erreichen würde. Zweifelsohne entsprechen die vielen neu entstehenden Gemeinschaften einem Bedürfnis von Menschen, die Christus aufrichtig lieben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Christus uns durch sein Kreuz und seine Auferstehung in einen einzigen Leib, in einen neuen Bund mit Gott zusammengeführt hat. Christus ist so weit gegangen, sogar sein Leben hinzugegeben, um „die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen“. [1] Er hat Mauern eingerissen und am Kreuz seine Arme über die getrennte Menschheit ausgebreitet. Seitdem gibt es nichts mehr, was unsere innere Distanz zu anderen rechtfertigen würde.

Alle, die Christus lieben, sind in seiner Nachfolge in eine große Gemeinschaft eingeladen. Durch diese Gemeinschaft, die Freundschaft ist, können die Christen dabei helfen, die Wunden der Menschheit zu heilen. Sie können, ohne sich aufzudrängen, eine weltweite Solidarität vorantreiben, die niemanden mehr ausschließt: kein Volk, keinen einzigen Menschen.

Im Gegensatz dazu hat man sich heute an einen höflichen Umgangston zwischen den Konfessionen gewöhnt. Dieser überdeckt allerdings oft nur unzureichend, dass man sich im Grunde genommen nach wie vor voneinander abgrenzt und nicht ernsthaft nach konkreten Schritten der Versöhnung sucht. In offiziellen Gesprächen werden zwar Fortschritte gemacht, aber die Trennungen werden weiterhin mit theologischen Spitzfindigkeiten gerechtfertigt. Wir Christen müssten uns eigentlich schämen, nicht mehr für die von Christus gewollte Einheit zu tun. Viele junge Menschen suchen einen Sinn und einen festen Halt im Leben; sie erwarten unsere Hilfe und wir dürfen ihnen nicht mehr länger die verwirrende Tatsache unserer Trennungen anbieten.

Suchen wir einen neuen Ausgangspunkt!

Wie bereits angedeutet, stehen wir heute vor einer doppelten Herausforderung: Eine Gemeinschaft all derer, die Christus lieben, kann nur entstehen, wenn wir die zwischen uns bestehende Vielfalt respektieren. Gleichzeitig muss diese Gemeinschaft sichtbar sein, um Orientierung bieten zu können. Die sichtbare Einheit muss also einen großen Pluralismus anerkennen. Papst Franziskus spricht in diesem Zusammenhang nicht mehr von einer Kugel, deren Punkte alle gleich weit vom Zentrum entfernt sind, sondern er gebraucht das Bild eines Polyeders, eines Gebildes mit vielen Flächen. Für ihn ist die Kirche „Verschiedenheit, die in Gemeinschaft vereint ist, nicht in Gleichheit, sondern in Harmonie“. So möchte ich heute Abend einen ersten Vorschlag machen, wie wir „gemeinsam weitergehen“ können und behaupten, dass wir einen neuen Ausgangspunkt finden müssen, um zu dieser „versöhnten Verschiedenheit“ zu gelangen.

Von „Einheit“ und „Verschiedenheit“ zu sprechen, ist zunächst mit zwei Gefahren verbunden: Die erste besteht darin, mit unserer Verschiedenheit die bestehenden Trennungen zu rechtfertigen. Die zweite Gefahr dagegen wäre, Einheit als Einförmigkeit misszuverstehen. Es bedeutet eine Gratwanderung, diese beiden Gefahren zu umgehen. Wie können Einheit und Verschiedenheit also miteinander in Einklang gebracht werden?

Zu lange bestand der Ausgangspunkt darin, das uns Trennende aufzulisten und zu analysieren. Vielleicht war dies ein notwendiger erster Schritt, aber letztlich müssen wir von Christus ausgehen, von ihm, der nicht geteilt ist!

Dietrich Bonhoeffer beschreibt diesen Ausgangspunkt besonders treffend: „Bruder ist einer dem anderen allein durch Jesus Christus. Ich bin dem anderen ein Bruder durch das, was Jesus Christus für mich und an mir getan hat; der Andere ist mir zum Bruder geworden durch das, was Jesus Christus für ihn und an ihm getan hat. Dass wir allein durch Jesus Christus Brüder sind, das ist eine Tatsache von unermesslicher Bedeutung… Wir haben einander nur durch Christus, aber durch Christus haben wir einander auch wirklich, haben wir uns ganz für alle Ewigkeit.“ [2]
Nehmen wir also als Ausgangspunkt den auferstandenen Christus, der Menschen aller Stände und Schichten, aller Sprachen und Kulturen, und selbst verfeindeter Völker in eine einzige Gemeinschaft zusammenführt. Daraus ergibt sich für uns Christen die Pflicht, mit all unserer Verschiedenheit nach sichtbarer Gemeinschaft zu suchen.

Ziehen wir unter ein gemeinsames Dach!

Dieser neue Ausgangspunkt führt mich zu einem zweiten Vorschlag, den ich schon einmal vorgebracht habe und den ich heute wiederholen möchte: Müssten die christlichen Kirchen nicht den Mut haben, „unter ein Dach“ zu ziehen, obwohl noch nicht alle theologischen Fragen geklärt sind! Dieser Schritt verlangt viel Fantasie. Aber der Heilige Geist kann sie uns schenken.

Es wird immer Unterschiede geben. Sie werden stets eine Aufforderung zum offenen Dialog sein, um uns gegenseitig bereichern zu lassen. Ist es nicht an der Zeit, das, was uns gemeinsam ist, an die erste Stelle zu setzen: unsere christliche Identität, die wir als Getaufte haben? In allen Kirchen wird bis heute die konfessionelle Identität betont: Man ist in erster Linie katholisch, evangelisch oder orthodox. In Wirklichkeit müsste die Tatsache an erster Stelle stehen, dass wir Getaufte sind! [3]

An dieser Stelle möchte ich etwas zu unserem Leben in Taizé sagen. In unserer Communauté leben evangelische und katholische Brüder zusammen, die auf diese Weise die zukünftige Einheit vorwegnehmen möchten. Wir tun dies, indem wir einen konkreten „Austausch der Gaben“ leben: mit den anderen das teilen, was wir als eine Gabe Gottes betrachten, und gleichzeitig anerkennen, dass Gott auch den anderen Schätze anvertraut hat. Papst Franziskus beschreibt diesen Weg sehr gut: „Es handelt sich nicht nur darum, Informationen über die anderen zu erhalten, um sie besser kennenzulernen, sondern darum, das, was der Geist bei ihnen gesät hat, als ein Geschenk anzunehmen, das auch für uns bestimmt ist.“ [4]

So empfangen wir Brüder seit Anfang der 1970er-Jahre, mit Einverständnis des damaligen Ortsbischofs, alle die Kommunion der katholischen Kirche. Dies war für uns die einzige Möglichkeit, gemeinsam die Kommunion zu empfangen. Jahre zuvor hatten die Brüder bereits festgestellt, dass die Gegenwart katholischer Brüder in der Communauté ein Ansporn war, stets in einer noch tieferen Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom zu leben. Sie waren sich bewusst, wie wichtig der katholischen Kirche die sichtbare universale Gemeinschaft in Christus schon immer war. Die Brüder der Communauté, die aus evangelischen Familien stammen, gehen diesen Weg, ohne in irgendeiner Weise ihre Herkunft zu verleugnen; der Glaube gewinnt für sie dadurch vielmehr an Weite.

Die Brüder aus katholischen Familien sehen eine Bereicherung darin, sich im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils den Gaben der Kirchen der Reformation zu öffnen. Diese betonen in besonderer Weise bestimmte Wirklichkeiten des Evangeliums: Gottes Handeln ist in keiner Weise vom Verhalten des Menschen abhängig, Gott schenkt seine Liebe unverdient; in seinem Wort kommt Gott auf die Menschen zu, die es hören und in die Tat umsetzen; das Vertrauen des Glaubens führt zur Freiheit der Kinder Gottes und im gemeinsamen Gesang dringt das Wort Gottes tief in uns ein.

Schon in frühen Jahren hat unsere Communauté versucht, ihre Gemeinschaft mit der Orthodoxen Kirche zum Ausdruck zu bringen. 1965 sandte der ökumenische Patriarch Athenagoras von Konstantinopel Mönche nach Taizé, um für mehrere Jahre das monastische Leben mit uns zu teilen. Frère Roger hat sehr geduldig eine vertrauensvolle Beziehung mit der russisch-orthodoxen Kirche aufgebaut, die bis heute besteht. Die Auferstehung – die Auferstehung Christi und auch unsere eigene – sowie die Rolle des Heiligen Geistes in der Kirche sind auch für uns der Mittelpunkt unseres Glaubens, wie auch für die Christen des Ostens. Die Lehre der Kirchenväter ist ebenso für uns von großer Bedeutung.

Dieses ökumenische Zusammenleben stellt in unserem Alltag etwas Selbstverständliches dar. Natürlich bringt dies auch Einschränkungen mit sich und verlangt Verzicht. Aber es gibt keine Versöhnung ohne Verzicht.

Man kann die Geschichte von Taizé als Versuch ansehen, gemeinsam unter einem Dach zu leben: Wir Brüder stammen aus fast 30 verschiedenen Ländern, wir leben unter dem Dach eines Hauses und kommen zum gemeinsamen Gebet dreimal am Tag unter dem Dach der Versöhnungskirche zusammen.

An diesem gemeinsamen Gebet in Taizé nehmen Jugendliche aus allen Teilen der Welt teil – unter ihnen katholische, evangelische und orthodoxe Christen. Sie teilen miteinander ihre Suche nach Gott, genauso wie das tägliche Leben, die Mahlzeiten und alle anfallenden Arbeiten. Auf diese Weise sind auch sie Teil dieses „Gleichnisses der Gemeinschaft“, das die Communauté verwirklichen will. Sie versuchen nicht, ihren Glauben auf einen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu bringen oder ihre Wertvorstellungen einzuebnen, dennoch machen sie die erstaunliche Erfahrung einer tiefen Einheit.

Diese jungen Menschen machen eine Erfahrung von Gemeinschaft, auch wenn sie wohl eher von Freundschaft sprechen würden, von Miteinanderteilen, von gegenseitigem Respekt, Zusammensein, Kennenlernen und ähnlichem.

Doch im Grunde genommen machen sie eine neue Erfahrung von Kirche: Sie entdecken die Schönheit dieser Gemeinschaft, auch wenn sie es vielleicht anders ausdrücken. Sie staunen und fragen sich, was sie so tief verbindet: Wie kommt es, dass so unterschiedliche Menschen sich verstehen, obwohl sie verschiedenen Konfessionen, verschiedenen Kulturen und manchmal sogar Völkern angehören, zwischen denen Krieg herrscht?

Manche finden dann in Gott, in Christus, die Quelle einer Einheit, die über sämtliche Grenzen hinweggeht. Man könnte also sagen: So wichtig es auch ist, über den Glauben und die Kirche zu sprechen, es muss stets eine Erfahrung von Gemeinschaft vorausgehen.

Wenn es uns Brüdern möglich ist, die Einheit vorwegzunehmen, und wenn Jugendliche sich im Rahmen der Jugendtreffen in Taizé daran beteiligen können, warum wäre dies nicht auch woanders möglich?

Aus diesem Grund sage ich oft zu den getrennten Christen: Warten wir nicht länger, begeben wir uns unter ein gemeinsames Dach! Wenn alle Christen eine Familie bilden, wäre es doch die normalste Sache der Welt, unter einem Dach zu leben und nicht zu warten, bis alle in allem einer Meinung sind!

Christus gibt die Einheit wann und wie er will; sie ist ein Geschenk. Aber wir müssen dieses Geschenk auch annehmen! Wie kann Christus uns die Einheit schenken, wenn wir uns nicht unter ein gemeinsames Dach begeben? Die Apostel, Maria und einige andere Frauen und Männer haben den Heiligen Geist empfangen, als sie unter dem Dach des Obergemaches in Jerusalem zusammen waren. Genauso vereint uns der Heilige Geist mit all unserer Verschiedenheit!

Wie können wir diesen Schritt konkret vollziehen? - In den vergangenen zwei Jahren habe ich bereits bei verschiedenen Gelegenheiten folgende Anregungen gemacht:

- Wir können uns innerhalb unserer Ortsgemeinde, zwischen Nachbarn und Familien, wie eine Art „Basisgemeinde“ zusammentun, um gemeinsam zu beten, um uns gegenseitig zu helfen und uns näher kennenzulernen.

- Beispiele einer gemeinsamen Bibelarbeit zwischen Gemeinden verschiedener Konfessionen, eines gemeinsamen Sozial- und Seelsorgedienstes sowie eines gemeinsamen Religionsunterrichts gibt es bereits. Diese Zusammenarbeit ist noch ausbaufähig: Jede Gemeinde könnte mit den Christen der anderen Konfessionen alles gemeinsam tun, was gemeinsam getan werden kann. Man könnte sich vornehmen, nichts mehr zu unternehmen, ohne die anderen mit einzubeziehen.
- Könnte nicht der Dom oder die Hauptkirche an vielen Orten zu einem Haus des Gebets für alle Christen der Stadt werden?

- Der theologische Dialog muss weitergehen! Doch könnte er nicht noch mehr als bisher im Rahmen eines gemeinsamen Gebets geführt werden, aus dem Bewusstsein heraus, dass wir bereits beisammen sind? Wo man zusammenlebt und gemeinsam betet, werden auch die theologischen Fragen anders angegangen. Vielleicht gilt das Gleiche für die Behandlung ethischer Fragen!

- Alle Glaubenden haben die Berufung, füreinander Sorge zu tragen. Die Kirche braucht aber auch auf den verschiedenen Ebenen ein Dienstamt der Einheit. Auf Weltebene ist dies traditionellerweise mit dem Bischof von Rom verbunden. Könnte man ihn nicht als Diener anerkennen, der für die Eintracht seiner Brüder und Schwestern in ihrer großen Verschiedenheit Sorge trägt? Könnten die einzelnen Kirchen nicht mit diesem Dienstamt verbunden sein, wenn auch auf unterschiedliche Weise? Ist dies im Übrigen nicht, zumindest ansatzweise, schon mancherorts eine unausgesprochene Wirklichkeit?

- Müssten die Kirchen, die sosehr darauf bestehen, dass für den gemeinsamen Kommunionempfang die Einheit im Glauben und das Einverständnis über das Amt Voraussetzung sind, nicht mit ebenso großem Nachdruck auf der Einmütigkeit in der geschwisterlichen Liebe bestehen! Ich denke dabei an die katholische und orthodoxe Kirche. Könnten sie nicht denen, die ihre Sehnsucht nach Einheit bekunden und an die Realpräsenz Christi glauben, eine weitreichendere eucharistische Gastfreundschaft gewähren? Die Eucharistie ist nicht nur der Höhepunkt der Einheit, sondern auch der Weg zu ihr.

In diesen Vorschlägen geht es ganz wesentlich um die gegenseitige Gastfreundschaft, wobei ich dabei nicht nur an die eucharistische Gastfreundschaft denke. [5] Eine Ökumene der Gastfreundschaft! Wenn wir diese noch mehr ins Zentrum stellen würden, läge der Schwerpunkt nicht mehr so sehr auf der Arbeit von Dialogkommissionen, sondern auf dem Leben und dem Alltag der Gläubigen. Die interkonfessionelle, wie übrigens auch die interreligiöse Gastfreundschaft, setzt ein Bemühen um „Übersetzung und Vergebung“ voraus, sowie die Anerkennung des jeweils anderen. Gastfreundschaft ist auf das Vertrauen angewiesen, dass der andere es genauso ehrlich meint wie ich.

Ich möchte damit sagen: Wahre Gastfreundschaft verlangt zunächst einmal, dass wir uns die Mühe machen, uns in den anderen hineinzuversetzen und ihm unsere Glaubens- und Frömmigkeitsformen zu erklären. Diese sind für den anderen wie eine fremde Sprache, die wir ihm übersetzen müssen. Das verlangt viel Geduld und wir gelangen damit nie ans Ende: dem anderen zuhören, seine Worte in meine eigene Sprache übersetzen und dabei hinnehmen, dass ein Teil des Gesagten unübersetzbar bleibt, und trotz allem gemeinsam weitergehen.

Weil wir dem anderen nie alles übersetzen können, sind Begegnung und Gastfreundschaft nicht ohne Vergebung möglich, wo Intoleranz und Ablehnung des anderen das geschwisterliche Zusammenleben verletzt haben. Man kann Vergebung jedoch nicht einfordern, genauso wenig wie man Barmherzigkeit oder Gnade einfordern kann.

Gastfreundschaft bedeutet auch, den anderen als anderen anzuerkennen. Könnten wir nicht dort, wo sich uns die Wahrheit des Glaubens eines anderen verschließt, zumindest die Aufrichtigkeit seines Glaubens und seiner Suche sehen! Dann können wir auch das, was wir an anderen nicht verstehen, als Geheimnis achten und staunend lernen, für den anderen dankbar zu sein. Dies brächte mehr Freude in unser ökumenisches Leben!

Gemeinsam der Wahrheit entgegengehen!

Aber ist es tatsächlich möglich, uns unter ein gemeinsames Dach zu begeben, ohne dass in allen theologischen Fragen Einverständnis herrscht? Ja, dessen bin ich mir ganz sicher. Und hiermit wäre ich bei meinem dritten Vorschlag: Gemeinsam der Wahrheit entgegengehen, und nicht jeder für sich!

Von Papst Benedikt XVI., der stets bemüht war, jeden Relativismus zu vermeiden, stammt der wunderbare Satz: „Es ist unangebracht, in ausschließender Weise zu behaupten: ‚Ich besitze die Wahrheit‘. Die Wahrheit ist niemals Besitz eines Menschen. Sie ist immer Geschenk, das uns auf einen Weg ruft, sie uns immer tiefer anzueignen. … Die Wahrheit kann nur in der Freiheit erkannt und gelebt werden; denn wir können dem anderen die Wahrheit nicht aufzwingen. Nur wenn wir einander in Liebe begegnen, enthüllt sich die Wahrheit.“ [6]

„Die Wahrheit ist niemals Besitz eines Menschen. Sie ist immer Geschenk!“, sagt Papst Benedikt. Müsste die Theologie in den verschiedenen Kirchen nicht demütiger werden und noch mehr der Tatsache gerecht werden, dass sich Gott nicht in unsere Gedankengebäude einsperren lässt. Hier kann uns die apophatische Theologie helfen, die in der Ostkirche eine große Rolle spielt und die in erster Linie hervorhebt, was Gott nicht ist, anstatt zu versuchen, Gott zu definieren.

Dies käme auch dem Anliegen der Reformatoren entgegen, die die Unverfügbarkeit Gottes immer wieder betont haben und jeden Tauschhandel mit Gott ablehnten: Gott ist frei, „unvorhersehbar“, und seine Barmherzigkeit ist größer als alles, was wir uns vorstellen können. So ist jeglicher Handel mit ihm ausgeschlossen; wir können Gott zu nichts zwingen.

Dennoch bedeuten Freiheit und radikale Transzendenz Gottes nicht, dass die Wahrheit unerreichbar wäre. Nach den Worten des Evangelisten Johannes wird der unsichtbare und alles übersteigende Gott zugänglich in der Person Jesu und in der geschwisterlichen Liebe. „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.“ [7] Und an anderer Stelle schreibt Johannes: „Niemand hat Gott je geschaut; wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe ist in uns vollendet.“ [8]Für Johannes gibt es nur einen Weg, um in der Wahrheit Christi zu bleiben: zusammenkommen und uns gemeinsam auf den Weg zu machen. Das ist, was Papst Benedikt mit den Worten ausdrückt: „Nur wenn wir einander in Liebe begegnen, enthüllt sich die Wahrheit.“

Ich möchte das Gesagte anhand der in der Apostelgeschichte überlieferten Begegnung zwischen Petrus und Kornelius veranschaulichen: Diesen beiden Menschen geht, indem sie sich begegnen, eine Wahrheit auf, die weder der eine noch der andere von ihnen vorher kannte:

In Cäsarea befiehlt ein Engel dem römischen Hauptmann Kornelius, einen gewissen Petrus aus Joppe holen zu lassen. Kornelius hat keine Ahnung, um wen es sich handelt. Zur gleichen Zeit hat Petrus in Joppe eine eigenartige Vision: Er soll alle möglichen als unrein betrachtete Tiere essen – „Vierfüßler, Kriechtiere der Erde und Vögel des Himmels“. Weder Petrus noch Kornelius verstehen, was geschieht.

Als die Boten des Kornelius zu Petrus kommen, begreift dieser zwar, dass er mitgehen soll, aber nicht warum. Und als er in Cäsarea ankommt, weiß auch Kornelius noch nicht, was Gott ihm durch diesen Jünger Jesu sagen will.

Erst im Hause des Kornelius beginnt Petrus zu begreifen, was die Vision, die er hatte, bedeutet, nämlich dass man „keinen Menschen unheilig oder unrein nennen“ und meiden darf, und dass er mit seinem Besuch bei dem Römer Kornelius nicht gegen das Gesetz verstößt. Petrus erzählt also, was er über Gott und Jesus weiß. Und zu seinem großen Erstaunen wird der Heilige Geist über Kornelius und die Seinen – also über Nicht-Juden – ausgegossen. [9]

Weder Petrus noch Kornelius wussten im Voraus, was ihnen geoffenbart werden sollte, nämlich dass Gott auch den Nicht-Juden „die Umkehr zum Leben geschenkt hat!“ Genauso wenig wie Kornelius hätte Petrus für sich allein die Wahrheit gefunden, obwohl er, der Apostel, doch in einer festen Beziehung zu Christus stand. Erst unter einem Dach und an einem gemeinsamen Tisch [10] konnte sich ihnen die Wahrheit offenbaren.

Die Wahrheit eröffnet sich nur in einer Begegnung der Liebe. Wir werden als Christen erst zu dem, was wir sind, wenn wir uns gemeinsam auf den Weg machen. So stellt sich nun konkret die Frage: Bringen wir den Mut auf, uns unter ein gemeinsames Dach und an einen gemeinsamen Tisch zu begeben, um zusammen der Wahrheit entgegenzugehen, die sich nicht anders offenbaren kann?

Auf dem Handzettel zu dieser Tagung sind die „Fünf Ökumenischen Imperative“ aus dem Dokument „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ erwähnt, von denen der Zweite dieselbe Frage anspricht: „Lutheraner und Katholiken müssen sich selbst ständig durch die Begegnung mit dem Anderen und durch das gegenseitige Zeugnis des Glaubens verändern lassen.“

Es ist wahr: Die Begegnung verändert; Petrus und Kornelius haben dies erfahren. Eine solche Veränderung kann schmerzhaft sein, wenn dabei unsere inneren Widerstände zutage treten, all das, worin wir die anderen insgeheim ablehnen oder verurteilen. Aber gerade dort offenbart sich die Wahrheit unserer Einheit, die sich nicht zeigen kann, solange jeder für sich bleibt.

Es war für Petrus kein leichter Schritt, zu Kornelius zu gehen und seine Gastfreundschaft anzunehmen. Und sofort wurden ihm von seinen Mitchristen Vorhaltungen gemacht. Aber die Apostelgeschichte berichtet auch, wie sich die Betroffenen, sobald sie die Wahrheit erkannten, „beruhigten und Gott priesen.“

Die Schönheit der Berufung der Kirche

Zum Abschluss möchte ich noch Folgendes sagen: Wenn die Christen an einem Ort, in einer Stadt, in einem Land und selbst weltweit versuchen, sich in Liebe zu begegnen, wie Mitglieder ein und derselben Familie, wie Bewohner eines gemeinsamen Hauses, dann legen sie Zeugnis ab für den Frieden Christi und können selbst in schwierigsten Situationen Frieden stiften.

Viele Christen und die meisten Kirchen und christlichen Gemeinschaften möchten gemeinsam solche Zeugen des Friedens sein. Die ökumenischen Gespräche haben Wege dazu gebahnt. Zögern wir also nicht länger, die Konsequenzen daraus zu ziehen und gemeinsam weiterzugehen! Gehen wir von Christus aus, der nicht geteilt ist; begeben wir uns unter ein gemeinsames Dach und gehen wir gemeinsam der Wahrheit entgegen!

Damit betreten wir Neuland und müssen uns auf das Wort des Propheten Jesaja stützen, der sagt: „Die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen; ich will sie führen auf den Steigen, die sie nicht kennen. Ich will die Finsternis vor ihnen her zum Licht machen.“ [11]

Wir vertrauen uns dem Heiligen Geist an, der uns auf Wege führt, auf denen wir noch nie gegangen sind. Er zeigt uns, wie wir zu wahrhaftigen Zeugen der Gemeinschaft werden.

Letzte Aktualisierung: 3. März 2016

Anmerkungen

[1Johannes 11,52.

[2Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, Gütersloh 1993/24, 21f.

[3Groupe des Dombes, Für die Umkehr der Kirchen. Identität und Wandel im Vollzug der Kirchengemeinschaft („Pour la conversion des Eglises“), Frankfurt/M. 1994.

[4Evangelii Gaudium, 246.

[5Für die folgenden Abschnitte verdanke ich wertvolle Anregungen der Doktorarbeit von Beate Bengard, Rezeption und Anerkennung: Die ökumenische Hermeneutik von Paul Ricœur im Spiegel aktueller Dialogprozesse in Frankreich, Göttingen 2015.

[6Papst Benedikt, Ecclesia in medio oriente, 2012, 27.

[7Johannes 1,18.

[81 Johannes 4,12.

[9Vgl. Apostelgeschichte 10-11.

[10„Als nun Petrus nach Jerusalem hinaufkam, hielten ihm die gläubig gewordenen Juden vor: Du hast das Haus von Unbeschnittenen betreten und hast mit ihnen gegessen.“ (Apostelgeschichte 11,2-3)

[11Jesaja 42,16