Die Woche vor Pfingsten ist in Brasilien die Gebetswoche für die Einheit der Christen. Zu dieser Gelegenheit haben wir beschlossen, „vor den Mauern“ zu beten. Das tut sonst niemand: im Nordosten Brasiliens spricht niemand von Ökumenismus; manche neue Pfingstkirchen verbieten ihren Gläubigen sogar, eine katholische Kirche auch nur zu betreten. Inmitten dieser Spannungen zwischen Christen, die bisweilen zu einem wahren Wettkampf zwischen den Kirchen werden, haben wir uns als einfache Pilger von einem zum anderen Ort aufgemacht.
Der erste Besuch führte uns zu einer Kultstätte des Candomblé. Dieser ursprünglich afrikanische Kult hat sich während der Sklaverei als Heiligenverehrung getarnt und sich so bis in die Gegenwart erhalten, betörende Rhythmen, Tänze mit perfekter Choreographie. Der Pai do Santo, Vater des Heiligen, der an diesem Abend der Versammlung vorsteht, ruft Yemanjá, die Göttin des Meeres an. Zwei junge Frauen legen an diesem Samstag ihr „Versprechen“ ab, die ersten Gelübde ihrer Initiation. Nach der Pause mit einem großen Teller Feijão, dem Bohneneintopf, der hier im Nordosten sehr viel gegessen wird, offenbart sich Yemanjá im Pai do Santo, der nun Frauenkleider trägt, allein tanzt und dabei alle Anwesenden grüßt, umarmt und segnet.
Der zweite Besuch galt einer großen baptistische Kirche in der Innenstadt, der baptistisch-charismatischen Betlehemskirche. Die Gemeindemitglieder gehören zur neuen Mittelschicht. Autos parken rings um die Kirche. Im Inneren werden diejenigen, die zum ersten Mal da sind, herzlich empfangen. Der Lobpreis wird von einem kleinen Trio mit Gitarre, Bass und Schlagzeug begleitet. Eine Power-Point-Präsentation ermutigt zum Mitsingen bei der lauten Musik. Es geht hoch her, bis alles für die lange Predigt still wird. Es geht um das Thema der Berufung: Wie Gideon und Mose ruft Gott dir zu: „Du kannst das.“ Wir werden eingeladen, uns unseren Sitznachbarn zuzuwenden und ihnen zu sagen: „Du kannst das!“ Die Leute machen sehr ernsthaft mit. Der Gottesdienst endet und die Gespräche gehen auf dem Vorplatz noch lange weiter. Es gibt süßes, in Kokosmilch gebratenes Maisgebäck. Das schmeckt gut, ist süß und heiß, ganz wie der vorangegangene Gottesdienst.
Unser Pilgerweg geht zwei Tage später in der Assembly of God weiter, einer Pfingstkirche ganz in der Nähe unseres Hauses. Ein gekachelter Saal, ein paar lila Tücher, farblich zum Kleid der Diakonin Maria passend, dreißig Plastikstühle, eine kleine Verstärkeranlage und ein Atabaque, einer länglichen, fellbespannten Trommel, die den Rhythmus angibt. Weil kein Pfarrer da ist, leiten zwei Frauen den Lobpreis. Das Mikrophon geht von einem zum anderen: Mütter und Kinder loben Gott und singen erstaunlich gut. Man lädt uns ein, auch etwas zu sagen; das ist uns in 25 Jahren, die wir hier in diesem Stadtteil leben, noch nie in einer Pfingstkirche passiert. Einer von uns Brüdern spricht über Lukas, Kapitel 3: „Gott sagt zu jedem von uns: Du bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter“ und stimmt ein Lied mit demselben Text an. Die ganze Gemeinde singt mit. Der Lobpreis ist zu Ende und Isabela, die älteste Frau in der Gemeinde, kommentiert mit der anschaulichen Sprache unseres Stadtviertels die Geschichte von Zachäus. Die Gemeinde unterstreicht ihre Sätze mit lauten Zwischenrufen: Dank sei Gott, gelobt sei Gott, Amen! Am Ausgang stellt Isabela uns in einer Reihe auf und sagt: „Im Himmel stehen alle in einer Schlange, egal wo man herkommt und zu welcher Kirche man gehört. Zum Himmel gibt es nur eine Schlange und nur eine Tür.“ Was soll man da noch hinzufügen?
Am nächsten Tag besuchen wir eine andere kleine Pfingstkirche in unserer Straße. Auf der Fassade der in eine Kirche umgewandelten Garage steht in großen Buchstaben der Name der Gemeinde: Feuerflamme. Ein ganzes Programm! Wir kommen vom Abendgebet begrüßen am Eingang einen jungen Erwachsenen, den die Brüder gut kennen. Er war früher drogenabhängig und es heißt, er habe schon einmal jemanden umgebracht. Zwischen unseren meditativen Gesängen ein paar Minuten zuvor und dem ohrenbetäubenden Lärm diesem kleinen Universum aus Blech liegen Welten: keine Melodieinstrumente, nur Schlagzeug und andere Rhythmusinstrumente. Die Pfarrerin schimpft in ihrer Predigt über Drogen und Prostitution. Danach folgen Heilungen und andere Exorzismen. Die zwanzig versammelten Christen schreien gemeinsam mit der Pfarrerin Beschwörungen über dem Kopf einer Frau, die auf dem Rücken liegt. Sie lebt hier im Lager der Qualon (einem Volk wie die Sinti und Roma in Europa). „Fahre aus, heraus mit dir“ rufen sie über der Frau aus. Eine zweite und eine dritte Frau fallen neben ihr zu Boden. Der Lärm und die Ekstase erinnern mich an die Candomblé. Diese winzigen Kirchen sprechen die afrikanische Seele der Menschen an. Arme Menschen entwickeln hier eine erstaunliche Lebensenergie – etwas befremdlich – die sie für den geistlichen Kampf gegen die Kräfte des Todes in ihrem Alltag brauchen.
Zuletzt besuchen wir in dieser Woche noch die Hauptkirche der Assembly of God. Diesen Sonntag wird das hundertjährige Jubiläum der Ankunft der schwedischen Missionare gefeiert, die diese Erweckungskirche nach Brasilien brachten. Wir treffen Marcos wieder, einen Missionar. Die Brüder kannten ihn als er noch ein Kind war, er schon bei uns zum Religionsunterricht und wurde auch bei uns getauft, wurde dann aber Bandenchef und Drogendealer. Er hat Jesus kennengelernt, als er mit zwei Kugeln in die Rippen im Krankenhaus lag. Um den Bericht über seine Bekehrung zu untermauern, zeigt Marcos während unserer ersten Begegnung seine Narben. Im Krankenhaus betet er um Gnade und erfährt sie… in der Person von „Graça“ (Gnade), die er schließlich heiratet. Fortan arbeitet er als Missionar und bringt Drogen- und Alkoholabhängige in ein Therapiezentrum der Assembly of God in der Nachbarstadt, das „Therapiezentrum Dr. Jesus“ heißt und von einem evangelischen Pfarrer aufgebaut wurde, der den Süchtigen eine neunmonatige Entziehungskur von Crack und Alkohol anbietet. Nach dem Gottesdienst nimmt uns Marcos mit zu sich nach Hause. Er wohnt in einer der ersten Sozialwohnungen, welche die Stadt im Rahmen des Programms „mein Haus, mein Leben“ errichtet hat, ein Projekt, das Teil einer Vorzeigemaßnahme des Politikers und Ex-Präsidenten Lula zum Sozialen Wohnungsbau war. Marcos zeigt uns seine „Siegerurkunde“, die er von dem Pastor bei der Entlassung aus der Entziehungskur erhalten und die er stolz gerahmt und an die Wand gehängt hat. Wir machen ab, dass er morgen einen der alkoholkranken Jungen einer Familie, die wir gut kennen, zum Therapiezentrum bringt. Bevor wir gehen, um der Familie zu sagen, dass sie sich für den morgigen Tag bereithalten soll, sprechen wir noch mitten in seinem Wohnzimmer ein gemeinsames Gebet: „Gott, du schützt und leitest uns. Wir vertrauen dir unsere Familien und unser Tun an, in der Nachfolge Jesu.“ Danach – ein wenig benommen von dem Lärm der vielen Knaller, die zum Fest des Heiligen Antonius in der Straße explodieren, und von der schlechten Show, die gerade im Fernsehen läuft – bleiben wir noch ein wenig in dieser dem tropischen Klima nicht angepassten überwarmen Wohnung des Missionars Marcos und seiner Frau Graça, die sich in den Dienst Jesu gestellt haben, den Dienst an den Ärmsten, die dem Alptraum der Drogenabhängigkeit zum Opfer gefallen sind. Im Himmel stehen alle in einer Schlange und es gibt nur eine Tür.“