TAIZÉ

Ukraine, Oktober 2014

Gesichter der Hoffnung

 

Nach einem Besuch bei der Kleinen provisorischen Gemeinschaft in Kiew besuchte ein Bruder der Communauté Menschen in mehreren Städten der Ukraine: gemeinsame Gebete, Begegnungen mit Jugendlichen, Besuche zweier Universitäten und eines Priesterseminars, Gespräche mit Kirchenverantwortlichen. Das Programm war sehr ausgefüllt; wir wollten auf diese Weise die Situation im Land besser verstehen und den Jugendlichen Mut machen, die zu den Sommertreffen nach Taizé gekommen waren oder die sich bald auf den Weg nach Prag begeben werden.

Es ging besonders darum, Christen aller Konfessionen zu besuchen. Diese Suche nach einem Dialog bei diesen Besuchen in der Ukraine ist ein besonders wichtiges Anliegen der Communauté. Im Folgenden werden einige Personen vorgestellt, denen wir begegneten. Das Besondere dabei ist, dass es sich ausschließlich um Kinder handelt.


„Jeden Tag habe ich viele, vor allem junge Menschen kennengelernt. Mit Erstaunen stelle ich fest, dass mir aus jeder Stadt das Gesicht eines Kindes im Gedächtnis geblieben ist. Was gibt es besseres als das Gesicht eines Kindes, um an die Zukunft eines Landes und eines Volkes zu denken, und für die Menschen zu beten?“

Charkiw

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Zwei Tage vor meiner Ankunft wurde die Lenin-Statue auf einem der großen Plätze der Stadt von ihrem Sockel gestürzt. Die Studenten, die ich traf, erzählten noch ganz aufgeregt davon. Am Abend sprach ich nach dem Gottesdienst, den der katholische Bischof gefeiert hatte, mit verschiedenen Leuten, unter ihnen auch ein zehnjähriger Junge. Er war glücklich, sich anhand der wenigen Worte, die er in der Schule gelernt hatte, mit mir auf Französisch unterhalten zu können! Er wollte ganz offensichtlich die Sprachbarriere durchbrechen und strahlte dabei vor Freude. Zum Abschied kam er noch einmal auf mich zu, um „Au revoir“ zu sagen. Was für ein Glück hat dieser Junge, in einer so offenen Atmosphäre aufzuwachsen!


Komsomolsk

Im orthodoxen Priesterseminar der Diözese Poltava, das sich in Komsomolsk befindet, wartete man bereits auf mich. Ich konnte zwei Stunden mit den Studenten sprechen, was für mich ein großer Vertrauensbeweis seitens der Professoren war. Einer von ihnen ist ein junger Familienvater und Konstantin, sein jüngerer Sohn, ist gerade erst zwei Jahre alt. Mir fiel auf, dass der Kleine mich die ganze Zeit hindurch anlächelte. Durch dieses kleine Kind, von dem mich doch so viel trennt, wurde mir auf einmal klar, dass es nur eine einzige Menschheitsfamilie gibt.


Riwne

Im Westen des Landes erwarteten mich die Studenten in der Stadt Riwne. Auch dort stellte mir der Professor, der das Treffen vorbereitet hatte, seine Familie vor. Seine Tochter Vika ist noch nicht so alt, dass sie an einem Taizé-Treffen teilnehmen könnte. Aber sie zeigte mir ihr Schulbuch aus dem Geschichtsunterricht. Es war spannend, mit ihr zusammen das Buch anzusehen, vor allem die Bilder, und auch ihren Erklärungen zu verschiedenen geschichtlichen Ereignissen ihres Landes zuzuhören. Beim Abschied kam sie mit einem anderen Geschichtsbuch auf mich zu, um es mir zu schenken… das vom letzten Schuljahr.


Lwiw

Den Abschluss der sehr ausgefüllten Tage in Lwiw, der größten Stadt im Westen des Landes, bildete ein Abendgebet zusammen mit den Jugendlichen in einer Kirche der Altstadt. Vor dem Gebet stand ich vor der Kirche, als eine junge Mutter auf mich zukam, die mir erzählte, dass sie gerade am Treffen des Pilgerwegs des Vertrauens in Riga teilgenommen hätte und nun hoffen würde, eines Tages auch nach Taizé zu kommen. Ich versuchte, mit ihrem Sohn Taras ins Gespräch zu kommen, was sich allerdings als schwierig herausstellte. Er ist Autist. Doch nach und nach wendete er sich mir sehr liebevoll zu und wir „unterhielten uns“ – ohne ein Wort miteinander zu wechseln – eine ganze Zeit sehr gut miteinander. Seine Mutter bat mich, für ihre Familie und ihren Sohn zu beten. Während des ganzen Gebets sehe ich sein Gesicht vor meinen Augen.


Iwano-Frankiwsk

Meine Ankunft in Iwano-Frankiwsk fällt – ohne es geplant zu haben – auf einen besonderen Tag. Ein Gottesdienst ist vorgesehen sowie ein Konzert zum Gedächtnis eines jungen Mannes aus der Stadt, Roman Huryk, der am 20. Februar dieses Jahres von Heckenschützen erschossen wurde. An diesem Tag Anfang Oktober wäre er zwanzig Jahre alt geworden. Seine Familie hatte die Angehörigen anderer Opfer der Unterdrückung in ihrer Stadt eingeladen, um gemeinsam ihrer Kinder oder Eltern zu gedenken.

Völlig unerwartet stellt man mir den Großvater von Roman, Pan Miroslav, vor, der in seiner eigenen Kirche sehr aktiv ist. Er erzählt unter Tränen vom Leben und vom Tod seines Enkels und stellt mir die Mutter und die beiden Schwestern Romans vor. Durch diese Begegnung bekommen die Bilder und Nachrichten des vergangenen Winters ein konkretes Gesicht und spiegeln sich im Schmerz und der Hoffnung einer Familie.


Wenn ich jetzt an die Ukraine denke und die Nachrichten von dort höre, habe ich jedes Mal all diese Gesichter vor Augen. Sie bestärken mich in meinem Glauben, dass eine Zukunft des Friedens und der Versöhnung möglich und notwendig ist.“

Letzte Aktualisierung: 29. Oktober 2014