Marnix (Niederlande)
Vor unserer Abfahrt habe ich mir viele Gedanken gemacht. Ich lebe schon einige Zeit in Taizé zusammen mit anderen Freiwilligen. Aber mir war klar, dass ein Leben zu viert anders sein wird. Es ging uns vor allem um eines: Das Leben der Menschen in Lyon und Umgebung zu teilen. Den Rahmen unserer gemeinsamen Tage bildeten die gemeinsamen Gebete zu viert, was ich mir gar nicht vorstellen konnte! Aber ich wollte mich mit Herz, Augen, Ohren und Geist darauf einlassen.
In Givors erwartete uns der Gemeindepfarrer mit einem festlichen Mittagessen. Noch am selben Tag und die ganze darauffolgende Woche brachte man uns vorbei, was wir brauchten: Matratzen, mehr als wir brauchten, verschiedene Tische und Marmeladentöpfe. Die Leute aus der Gemeinde zeigten uns auf diese Weise, wie sehr sie sich über unsere Anwesenheit freuten. Am selben Abend noch trafen wir uns in der Kirche nebenan – kalt, aber schön – zu einem ersten Gebet. Danach gab es jeden Tag ein Morgen- und ein Abendgebet – und mittags wann immer es möglich war. Beim Morgengebet waren wir fast nie allein. Die Menschen zeigten uns, wie dankbar sie für unser Hiersein waren.
Wenn wir jemanden besuchten, erfuhren wir jedes Mal die gleiche Dankbarkeit und Lebensfreude. Einmal in der Woche halfen wir bei der Caritas in Givors und der Hilfsorganisation „Habitat et Humanisme“ in Lyon mit. Diese Arbeit hat mir persönlich am meisten gegeben und ich habe viel gelernt. Ich verstehe nun, dass es so viel wichtiger ist, einfach da zu sein, als alles, was man sonst noch tun kann – obwohl es ein gutes Gefühl ist, die Ärmel hochzukrempeln und mit anzupacken. An diesen Orten waren wir mit den Armen und mit Menschen zusammen, die in Solidarität mit anderen leben, und in Lyon auch mit Asylsuchenden, die kaum Französisch oder Englisch sprechen. Es kam es nicht darauf an, über Schwierigkeiten zu sprechen, vor allem nicht mit den Asylsuchenden, die oft ihre eigene Geschichte erzählten; wir wollten etwas gemeinsam tun.
Selbst in schwierigen Situationen kann Freude aufkommen. Es ist schön zu sehen, wie die Asylsuchenden sich trotz allem nicht unterkriegen lassen und sich ihre Lebensfreude bewahren. Sie sind dankbar für das, was sie bekommen, auch wenn es nur sehr Wenig zu sein scheint.
Patrick (Kenia)
Ein junger Mann kommt an uns vorbei. Unter seinem langen Mantel hat er nichts an und ist so im kalten Spätherbst unterwegs. Seine Geschichte gleicht der von vielen anderen hier. Sie wissen, wie hart das Lebens sein kann: Krieg, Hunger, Durst, Hitze, Kälte, die eigene Scham … Sudan, Libyen, das Mittelmeer, Italien, Calais, vielleicht noch andere Zwischenstationen … und jetzt Lyon.
In Givors lebt ein älterer Herr. Er ist allein, traurig und hat niemanden, mit dem er über sein Leben sprechen kann. Seine Heimat ist weit weg. Und ich weiß auch gar nicht, wo er sich zu Hause fühlt. Seine Geschwister wohnen in der Nähe, besuchen in aber kaum. Seine geschiedene Frau lebt in Algerien. Er erzählt mit Stolz von seinem einzigen Sohn, der in Algerien Maschinenbau studiert. Er hat keinen Kontakt mit ihm.
Er muss früher einmal gläubig gewesen sein. Vielleicht ist das auch heute noch so, aber er scheint nichts zu haben, was ihm Frieden gibt. Seine Geschichte ist lang und beginnt vermutlich in Algerien, wo er Beziehungen hat. Sie geht in New York weiter, in Frankreich, Algerien und jetzt wieder in Frankreich. Er wartet immer noch auf seine Frau und seinen Sohn. Er hofft, die kleine Wohnung, sein „Zuhause“, werde groß genug sein für alle.
„Jeder darf glauben, an was er will“, sagt er. Aber Glaube und Entscheidung scheinen weit weg zu sein, obwohl sie aus seinem Mund so bedeutungsvoll klingen. Heute ist er nicht allein, denn wir essen zusammen, trinken und sprechen miteinander.
Solche und ähnliche Bildern begegnet man auf den Straßen der Hoffnung, auf denen einige Menschen Hilfsbedürftigen im Alltag beistehen. Unter ihnen sind Flüchtlinge, Migranten, Obdachlose, alte und viele arme Menschen. Sie finden dort Freude und einen Ort, an dem sie sich zuhause fühlen können. Bei einer Tasse heißen Kaffees und süßem Gebäck entdecken wir in ihnen die gleiche tiefe innere Einstellung. Wegen der Caritas, wegen „Habitat & Humanisme“, einem evangelischen Heim, den Kleinen Brüdern der Armen und anderen gibt es Hoffnung.
In Givors haben wir fast jeden Tag mit einem Gebet begonnen und beendet. Normalerweise werden die Kirchen nur zu Beerdigungen aufgemacht. Sie für die täglichen Gebete zu öffnen, war ein Zeichen der Hoffnung, das die Menschen hier zum Nachdenken bringen sollte. Die meisten Menschen hier sind Muslime und nur einige alte Christen nehmen aktiv am kirchlichen Leben teil. Man könnte sich leicht über die Zukunft der Kirche sorgen machen, aber ich finde, dass es vor allem Mut macht, im gegenwärtigen Moment zu leben.
Wir haben Freikirchen, evangelische und katholische Christen kennengelernt. Das ist ermutigend, obwohl man uns am Anfang oft fragte: „Warum seid ihr eigentlich da?“ Auf andere zugehen und viel zurückbekommen – in dieser herzlichen Atmosphäre ist Christus erschienen.
Muslime haben uns mit offenen Armen empfangen. Durch unseren Besuch in der Moschee – ich muss gestehen, dass es mein erster war – konnten wir in der Gemeinschaft der Kinder Gottes leben. Wir haben auch an einem interreligiösen Gespräch in einer evangelischen Kirche teilgenommen – eine einzigartige Erfahrung. Katholiken und Protestanten sprachen mit Muslimen und Juden über das Thema des Essens in den verschiedenen Religionen.
Dies sind einige Momente aus unserem Leben in Lyon und Umgebung, das für uns eine sehr bereichernde Erfahrung war. Vieles bleibt ungesagt, weil man mit Worten nicht alles sagen kann, was die Augen sehen und was im Herzen verborgen ist.