Diese Woche nehmen etwa 300 junge Erwachsene von euch an einem Austausch über Fragen der Migration teil. Diese Themenwoche kam auf Vorschlag von Pater Czerny zustande, einem Jesuiten aus Rom, der im Auftrag von Papst Franziskus die Flüchtlingsarbeit des Vatikans koordiniert und anregt.
Neben ihm sind diese Woche noch andere Personen hier, die von ihrem Engagement und ihren Erfahrungen berichten: so die Politologin Catherine Withol de Wenden, Vertreter der der UNO angegliederten Internationalen Organisation für Migration, vom Lutherische Weltbund, dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst, von Verbänden sowie drei Mitglieder des Europäischen Parlaments, Pascal Brice, der Direktor des französischen Amts für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen und eine Reihe anderer.
Zu den eingeladenen Gästen gehört auch der anglikanische Erzbischof von York, John Sentamu, den ich besonders herzlich begrüße. Er ist zusammen mit 200 Jugendlichen aus Yorkshire mit dem Bus nach Taizé gekommen.
Wir Brüder der Communauté möchten verstehen, wie es zu Migrationen kommt. Und wir möchten mit euch allen darüber nachdenken.
Ich sollte eigentlich besser sagen: ‚Wir möchten die Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, verstehen und offen auf sie zugehen.‘ Ganz in den Anfängen der Communauté, als der junge Frère Roger während des Zweiten Weltkriegs noch allein hier gelebt hat, nahm er im Haus Menschen auf, die aus dem besetzten nördlichen Teil von Frankreich geflohen waren, insbesondere Juden. Die Demarkationslinie zwischen den beiden Teilen Frankreichs verlief nur wenige Kilometer von hier.
Später hat die Communauté Menschen aus Portugal, Vietnam, Ruanda und Bosnien in Taizé aufgenommen. Und unlängst Familien aus Ägypten, dem Irak und Syrien sowie eine Gruppe von Jugendlichen aus dem Sudan, aus Afghanistan und Eritrea, die fast alle Muslime sind.
All diese Menschen waren auf Hilfe angewiesen. Aber, so erstaunlich das klingen mag, wir haben von ihnen viel mehr geschenkt bekommen als wir selbst gegeben haben. Wir haben auf einmal besser gesehen, was Menschen an Unvorstellbarem durchleiden. Eine tiefe Freundschaft ist entstanden. Ich sage diesen Menschen immer wieder: ‚Gott hat euch zu uns geschickt!‘
Völlig unerwartet haben sich viele Menschen aus der Umgebung gemeldet, die auf verschiedene Weise konkret geholfen haben. Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass durch die Flüchtlinge das soziale Netz in der Gegend hier noch fester geworden ist.
Natürlich stellen uns die vielen Migranten und Flüchtlinge vor Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Die Angst, die manche Menschen haben, ist verständlich. Aber ich bin überzeugt, dass wir ohne persönlichen Kontakt mit den Migranten keine Lösungen finden werden.
Ich hoffe, dass durch die Migrationen in der Welt eine neue Solidarität zwischen den Völkern entsteht. Haben wir Christen – aufgrund unseres Glaubens – nicht eine besondere Verantwortung, eine solche Solidarität zu fördern?
Und dann können wir eine Entdeckung machen – das ist zumindest unsere Erfahrung hier in Taizé: Unser Glaube, unser Vertrauen auf Gott wächst und wird tiefer, wenn wir auf andere zugehen. Für uns Brüder der Communauté ist die Offenheit für andere, woher dieser auch kommen mag, nicht vom Vertrauen auf Gott zu trennen.
Dies hat nichts mit Naivität zu tun. Das Vertrauen auf Gott bringt uns dazu, ohne Angst und sehr konkret auf andere zuzugehen, der Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität ins Auge zu sehen und zu verstehen versuchen, worauf es ankommt. Wenn wir uns stattdessen von der Angst leiten ließen, würden wir uns abschotten und unsere Sicht der Wirklichkeit würde abstrakt und unklar.
Aber wir müssen noch tiefer gehen: Jesus Christus ist gekommen, um die ganze Menschheitsfamilie in der Liebe Gottes zusammenzuführen. Dafür hat er sein Leben am Kreuz hingegeben. Seitdem ist er mit jedem Menschen verbunden, sodass wir ihn in jedem Menschen sehen können, vor allem in den Ärmsten und Alleingelassenen. Er begegnet uns auf besondere Weise in jedem Flüchtling, den wir treffen.
Wir Brüder der Communauté möchten ein Zeichen dieser Einheit in der Menschheitsfamilie leben. Christus führt uns zusammen – über die Grenzen von Konfessionen und Ländern hinweg. Deshalb freuen wir uns auch, dass wir in dieser Woche einen neuen Bruder in die Communauté aufnehmen können, der von weit her kommt.
Am Samstag wird während des Abendgebets Patrick aus Kenia zum ersten Mal das Gebetsgewand der Brüder tragen. Er beginnt, sich darauf vorzubereiten, in einigen Jahren Christus Ja zu sagen für sein ganzes Leben in der Communauté.
Patrick hat bereits längere Zeit mit unseren Brüdern in Nairobi gelebt und es ist für uns eine große Freude, dass er auf diese Weise eine Brücke schlägt zwischen seinem Land und seiner Familie, und uns hier in Taizé.
Ich habe heute viel über Migration und über Flüchtlinge gesprochen. Es ist wichtig, dass wir jetzt einem von ihnen zuhören. Ich habe Murtada gebeten, heute Abend zu uns zu sprechen:
Murtada: Guten Abend! Mein Name ist Murtada und ich komme aus Darfur im Sudan. Ich bin 24 Jahre alt.
Ich habe mit 16 Jahren meine Heimat verlassen, um vor den Angriffen und der Gewalt der bewaffneten Milizen zu fliehen. In Khartum, der Hauptstadt meines Landes, wurde ich verfolgt. Die Polizei hat mich nur deswegen verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, weil ich aus dem Darfur komme. Als ich entlassen wurde, habe ich mich entschlossen, in eine andere Region des Sudan, nach Kordofan zu gehen. Allerdings war es auch dort sehr schwierig, sodass ich nach Libyen aufgebrochen bin.
Dort war ich zwei Monate lang. Es gab viel Gewalt und ständig Bedrohungen, sodass ich eines Tages auf das Mittelmeer bin, nur um Frieden zu finden. In Italien konnte ich auch nicht bleiben, so gelangte ich schließlich bis nach Calais in Frankreich. Von dort wurde ich mit anderen Sudanesen nach Taizé geschickt. Hier hat man mich sehr gut aufgenommen und ich beschloss, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Die Brüder der Communauté und die Dorfbewohner haben mir und den anderen mit den Papieren geholfen. Heute bin ich als Flüchtling anerkannt.
Das Leben so weit weg von meiner Familie und meinem Land fällt mir sehr schwer. Mittlerweile wohne ich zehn Kilometer von hier, in Cluny. Ich konnte dort ein Zimmer mieten und halte mich mit Zeitarbeit über Wasser. Ich würde am liebsten eine Ausbildung zum Automechaniker machen, aber ich habe noch keine Werkstatt gefunden, die mich einstellt.
Ich bin Muslim und erfahre von Christen große Achtung. Mit den Brüdern der Communauté sind wir Freunde geworden, wie wirkliche Brüder. Sie und unsere Nachbarn sind die Familie, die ich nun in Frankreich habe.