TAIZÉ

Gedanken zum 4. Fastensonntag

 
Zur Fastenzeit, die für die Menschen in vielen Ländern mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, veröffentlichen wir ab heute an dieser Stelle jede Woche einige Gedanken.

Sonntag, 22. März | 4. Fastensonntag

Johannes 9,1-12

Jesus sah einen Menschen, der noch nie etwas gesehen hatte, weil er blind war. Angesichts der Behinderung und der Armut dieses Bettlers stellen die Jünger Jesus die Frage nach dem Bösen: „Wer hat gesündigt, er oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ (Johannes 9,2) Vom Bösen als Unglück stellen sie eine Verbindung zum Bösen als Folge der Sünde her. Sind es die Eltern, die Unrecht getan haben, frei nach einem vom Propheten Ezechiel zitierten Sprichwort: „Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf“ (Ezechiel 18,2)? Oder trägt der Blinde nur die Folgen seiner Sünden? Bereits beim Propheten Hosea findet man die Vorstellung, dass ein Kind im Mutterleib sündigen kann: „Schon im Mutterleib hinterging Jakob seinen Bruder.“ (Hosea 12,4)

Wenn etwas Schlimmes passiert, wie zum Beispiel eine Krankheit, dann suchen wir nach den Ursachen. Das ist gut, denn so können wir gegebenenfalls unser Verhalten ändern und aus unseren Fehlern lernen. Jesus sagte zu dem Gelähmten, den er geheilt hatte: „Sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt!“ (Johannes 5,14)

Aber vor dem Blindgeborenen lehnte Jesus jede Erklärung durch Sünde ab: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt.“ Es gibt Unglück, das mit keinem menschlichen Verschulden zu erklären ist. Bei Covid-19 wäre es sehr verlockend, nach Schuldigen zu suchen. Fangen wir nicht auch schon an zu diskutieren, wer Fehler gemacht, schlecht geplant und falsch entschieden hat? Aber in unserer Welt wird es immer etwas geben, das wir nicht erklären können: Warum wird ein Kind mit einer Behinderung geboren? Warum taucht dieser oder jener Virus auf?

Das Unerklärliche und das Absurde erinnern uns daran, dass wir nicht Gott sind. Wir sind Geschöpfe, und damit notwendigerweise begrenzt und unvollkommen. Nach der Begegnung mit Gott im Wirbelsturm kommt Hiob zu dem Schluss, dass er angesichts der Größe der Schöpfung nicht viel bedeutet. Und er sagt: „Ich widerrufe und bereue in Staub und Asche.“ (Ijob 42,6)

Die Begegnung mit dem Blinden war für Jesus kein Anlass zur Diskussion über das Böse; genauso wenig soll sie ein Anlass zur Resignation sein. An dem Mann „sollen die Werke Gottes offenbar werden“. Jesus möchte „die Werke dessen vollbringen, der (ihn) gesandt hat“. Er offenbart sich als Mitschöpfer Gottes. Denn das Werk Gottes ist zunächst einmal die Schöpfung. Gott hat sechs Tage gearbeitet, um Himmel und Erde und alles, was sie erfüllt, zu erschaffen.

„Und Gott sah, dass es sehr gut war.“ Aber wenn ein Mensch lebt, der nie das Licht sieht, ist nicht alles „sehr gut“. Bereits nachdem er am Sabbath, dem Tag der vollendeten Arbeit, einen Gelähmten geheilt hatte, stellte Jesus die Idee infrage, dass Gott sein Werk bereits vollendet habe. Er sagte: „Mein Vater ist noch immer am Werk, und auch ich bin am Werk.“ (Johannes 5,17) Die Sendung Jesu ist es, „Gottes Werk zu vollenden“ (Johannes 4,34). Am Kreuz wird er sagen: „Es ist vollbracht.“ Und von seiner durchbohrten Seite wird am Kreuz das lebendige Wasser fließen, das wie die vier Flüsse des Paradieses die ganze Erde tränkt.

Jesus hat dem ehemals Blinden das Augenlicht nicht „wiedergegeben“ – dieser hatte es ja nie. Er hat ihn nicht geheilt – er hat vielmehr seine Schöpfung vollendet. Sorgfältig stellt Johannes Parallelen zwischen dem Handeln Jesu und der Schöpfung her. So wie Gott den Menschen mit seiner eigenen Hand aus dem Staub der Erde geformt hat, so macht Jesus mit Staub und seinem Speichel einen Teig und bestreicht damit eigenhändig die Augen des Blinden.

Irenäus von Lyon geht im 2. Jh. nach Christus sogar noch weiter und behauptet, dass Christus die Hand Gottes ist, die den Menschen ursprünglich gestaltet und sein Werk durch das Öffnen der Augen des Blinden vollendet habe. Er schreibt: „Jesus hat dem Blindgeborenen das Augenlicht nicht durch Worte wiedergegeben, sondern durch ein Tat; er handelte dabei nicht ohne Grund oder zufällig, sondern um uns die Hand Gottes bekannt zu machen, die den Menschen am Anfang geformt hat (...) Denn was das Schöpferwort im Mutterleib nicht geformt hatte, vollbrachte er am helllichten Tag, ‚damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden‘“ (Gegen die Häretiker, V, 15,2).

Fehlt nicht uns allen, wie dem Blindgeborenen, etwas, um vollendete Geschöpfe zu sein, um das Leben in Fülle zu haben, zu dem wir berufen sind? Wir kommen nicht voran, wenn wir nach dem Schuldigen unserer Unvollkommenheit suchen, sondern wir kommen nur voran, indem wir auf die Stimme Christi hören und tun, was er uns sagt. Er ist gekommen, in uns das zu vollenden, was Gott begonnen hat.


Sonntag, 29. März | 5. Sonntag in der Fastenzeit

Ezechiel 37,11-14 | Johannes 11,20-2

Es mag merkwürdig erscheinen, dass wir zwei Wochen vor Ostern, dem großen Fest der Auferstehung, im Gottesdienst zwei Texte lesen, in denen die Auferstehung nicht nur als ein zukünftiges Ereignis dargestellt wird, sondern als eine Verheißung des Lebens, das sich auf unser tägliches Leben mit all seiner Zweideutigkeit bezieht.

Denn für uns Jünger Christi besteht die tiefe Bedeutung der Auferstehung nicht darin, in einem bestimmten Moment die Vollendung „dieser Welt“ und der Beginn einer „zukünftige Welt“ zu sein. Paradoxerweise sagt uns Jesus, dass das „Ende der Zeiten“ nicht nach, sondern in unserer Zeit liegt. Für Jesus ist sie eine Lebenskraft, die bereits heute unseren Blick verwandeln kann, damit wir die Prüfungen und Leiden der jetzigen Zeit in einem anderen Licht sehen. Wir werden ein wenig wie der Diakon Stephanus, der im Moment seiner Steinigung ausruft: „Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.“ (Apostelgeschichte 7,56)

Der Schlüssel zu diesem Rätsel liegt in den Worten Christi, die wir soeben gelesen haben: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ In der Gemeinschaft mit ihm bricht die Fülle, nach der wir streben, mit ihrer verwandelnden Kraft bereits in unsere heutige Zeit herein. Sie hilft uns zu verstehen, dass selbst unsere schmerzlichen Erwartungen eine Teilnahme am großen Werk der Erlösung sind. Wie Paulus sagt: „Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt.“ (Kolosser 1,24) Mit anderen Worten: Durch Christus ist das, was „Altes Testament“ war, jene „leere“ Zeit, in der man die eigene Ohnmacht beobachtet und in Erwartung der Erlösung seufzt, in Wirklichkeit voller Verheißungen – Verheißungen eines neuen Tages, Geburtswehen, ... Weihnachtsnacht. Das Neue ist da, als eine oft unbequeme Explosion von Energie, die uns aus unseren festen Bahnen wirft, unsere Pläne durchkreuzt und unsere scheinbar gut kalkulierten Vorhaben zu Fall bringt.

So lebte das Volk Israel zur Zeit des Propheten Ezechiel, inmitten von politischen Katastrophen, in der Wüste. „Wir sind wie vertrocknete Knochen, unsere Hoffnung ist dahin, nichts hat mehr eine Sinn“, sagten die Menschen. Und genau in dieser Situation konnte das Wunder Gottes geschehen, ein unvergleichlicher Neuanfang. Die Festungen mussten dem Erdboden gleichgemacht werden, damit wir uns für Gottes Neuheit öffnen konnten.

Ebenso trauert Martha über den Tod ihres Bruders Lazarus. Sie glaubt noch immer an die Auferstehung, aber „am letzten Tag“. Diese Auferstehung ist ein wenig abstrakt, wie unser Glaube so oft – ein Trost, vielleicht, aber weit weg von der Realität des gegenwärtigen Lebens und von dessen Schwierigkeiten. Jesus versucht, Martha zurückzuholen und sie auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Indem man ihm vertraut, wird das traurige Heute zu einem Heute Gottes, der Tod wird zu einem Samenkorn des Lebens und eine ungeahnte Zukunft tut sich auf.

Unsere globalisierte Zivilisation befindet sich momentan in einer kritischen Phase. Viele Gewissheiten und Gewohnheiten sind wie weggefegt, und wir stehen vor einer unbekannten Zukunft. Die Versuchung ist groß, wie das Volk Israel dies als Abweichung zu sehen und auf die Rückkehr zur „Normalität“ zu warten. Aber können wir nicht die Stimme Christi hören, der zu uns sagt: Wer an mich glaubt, wird in dieser Zeit der Leere, an diesem Karsamstag der Geschichte, eine Inspiration, d.h. den Atem des Geistes, erkennen, um in ein neues Land aufzubrechen? Können wir inmitten der heutigen Krise nicht unerforschte Wege gehen, die uns eine Kirche entdecken lassen, die ein Ort der Gemeinschaft für alle ist, und eine humanere Gesellschaft aufbauen, ein Land der Gerechtigkeit und der Solidarität? Hören wir in dieser schweren Zeit Christus nicht ganz deutlich sagen: Ich bin hier und heute die Auferstehung, ich bin das Leben. Wenn ihr mir vertraut, könnt ihr eure arme Existenz zu einem Ort der Gegenwart Gottes machen? Glaubt nur, und ihr werdet mit mir auf dem Wasser gehen, in dem die Welt gerade untergeht – das Unmögliche wird Wirklichkeit.

Letzte Aktualisierung: 30. März 2020