Im März waren zwei Brüder der Communauté in Russland. Hier einige Eindrücke:
Wenn man nach mehreren Jahren zum ersten Mal wieder während der Fastenzeit nach Russland kommt, ist man überrascht. In fast allen Gaststätten der verschiedensten Kategorien werden „Fastenmenüs“ angeboten. In der Tradition der orthodoxen Kirche spielt die Fastenzeit eine besondere Rolle und derartige Angebote zeigen, wie kirchliche Dinge zu einem Teil des öffentlichen Lebens geworden sind. Am ersten Sonntag unseres Aufenthaltes sprach auch Patriarch Kirill in einem Hirtenbrief, der während der Gottesdienste in allen Gemeinden verlesen wurde, über die Fastenzeit und davon, dass diese sich nicht in der Einhaltung von Essensvorschriften oder äußeren Regeln erschöpft, sondern dass wir in der Fastenzeit Gott und dabei auch unserem Nächsten näher kommen. Der Glaube an Gott ist nicht von der Barmherzigkeit und Freundlichkeit gegenüber denen zu trennen, die mit uns zusammenleben.
Junge Erwachsene wieder zu sehen, die am Europäischen Treffen in Posen am Jahresbeginn teilgenommen hatten, ist eine große Freude. Viele waren tief beeindruckt vom herzlichen Empfang in Polen, den sie sich so nicht erhofft hatten. Mit anderen zusammen zu sein, und sich dabei gegenseitig Mut zu machen, den Glauben zu Hause in unserer Kirche immer tiefer zu leben, war für sie sehr wichtig. Man braucht Mut, um das Evangelium zu leben. Im heutigen Russland kann man sich so vieles aussuchen. Es setzt eine grundsätzliche Entscheidung voraus, Christus nachzufolgen und auf dem Weg des Glaubens weiter zu gehen. Wie Frère Alois im „Brief aus China“ schreibt, müssen wir unsere Sehnsüchte neu sortieren und geduldig lernen welcher wir Priorität einräumen. Zwei Treffen in Moskauer Innenstadtgemeinden zeigten ebenfalls, welche Hilfe und Nahrung im Glauben die Ortsgemeinde für junge Menschen sein kann.
Die Stadt Kemerovo liegt vier Flugstunden östlich von Moskau. Start und Landung auf schneebedeckten Pisten ist nichts für Zartbesaitete; man muss aus Sibirien stammen, um daran gewöhnt zu sein! Die Orthodoxe Diözese von Kemerovo und Novokuznetsk erlebte in den letzten 15 Jahren eine rasante Entwicklung. Vor der Perestroika gab es in jeder Stadt eine einzige offene Kirche. Nun gibt es 15 Gebetsorte in Kemerovo und nochmal so viel in Novokuznetsk. Aber nicht nur um Kirchengebäude geht es. Gemeinden aufzubauen steht an erster Stelle. In jeder Stadt gibt es eine Orthodoxe Oberschule, und in Novokuznetsk ein diözesanes Seminar. Priester arbeiten in der Studentenseelsorge an den Universitäten dieser riesigen Bergbauregion. An Angebote, sich mit dem Glauben auseinanderzusetzen – früher ein Ding der Unmöglichkeit – mangelt es nicht. Eine unglaubliche Dynamik und Begeisterung ist unter denen zu spüren, die sich für ihren Glauben engagieren. Dabei kommt die herzliche Gastfreundschaft der Menschen in Sibirien zum Durchbruch!
In St. Petersburg kann man bei einem christlichen Radiosender im Studio anrufen und den Gästen live Fragen stellen. Selbst mitten am Tag rufen die Leute mit verschiedensten Fragen an; das scheint etwas ganz normales zu sein: „Ist die Liebe ein Geschenk Gottes oder müssen wir lernen wie man liebt?“ Würden so tiefgehende Fragen im Westen öffentlich gestellt? Viele Menschen scheinen sich wichtige Fragen im Leben zu stellen. Wagen wir es, auf solche Fragen im Licht des Evangeliums eine Antwort zu suchen?
Aber zurück nach Sibirien: In einem Vorort von Novokuznetsk steht eine Holzkirche, die Johannes dem Krieger geweiht ist. Die Gemeinde wurde 1994 gegründet. Nun ist der Kirchenbau abgeschlossen. Der Pfarrer zeigte uns die Ikonen, Mittelpunkt der Anbetung, und die Reliquien der Märtyrer, Zeichen der Gemeinschaft mit allen heiligen Zeugen. Dann lenkte er unsere Aufmerksamkeit auf eine Ikone der Jungfrau mit dem Kind, auf der Maria dargestellt ist, die Jesus einen Becher an den Mund hält. Jemand aus der Gemeinde hat die Ikone gemalt; die Frau hatte eines Wintermorgens das Bild in einem vom Eis bedeckten Fenster gesehen und malte, was sie gesehen hatte. Sie hatte nie einen Pinsel in der Hand und konnte sich keinen Namen für die Ikone vorstellen. Doch allmählich verstand sie, dass Gott sie in vielen verschiedenen Situationen ihres Lebens gebeten hatte, Geduld zu haben. So wurde die Ikone „Becher der Geduld“ genannt. Der Becher, aus dem Jesus trank, schenkte ihm die Geduld, sanft und von Herzen demütig zu sein.
Und plötzlich schien es, als ob der Heilige Geist spricht. Dies ist so weit weg von dem, was ich in meiner kirchlichen Tradition gewöhnt bin, aber in der Tiefe des sibirischen Winters sagte Gott, „Habe Geduld!“ Mit allen, die diese Ikone betrachten und mit mir selbst. Dies habe ich von meiner Reise nach Russland mitgenommen.