
In diesem Jahr feiern viele Länder Lateinamerikas ihre 200-jährige Unabhängigkeit von Spanien. Durch diesen Bruch mit fast 200 Jahren Kolonialherrschaft konnten die Länder des Kontinents erstmals frei über ihre gesellschaftlichen Belange entscheiden.
Vor diesem historischen Hintergrund wurde in Chile am 18. Oktober die Unabhängigkeit gefeiert, mit der die Fundamente eines modernen Staates gelegt worden waren. Wie andere Chilenen auch, haben wir das Beste aus den vier Feiertagen gemacht. An jedem Haus und jeder Kirche, an jeder Straßenecke wehen Fahnen, während Freunde und Familien gemeinsam feiern. Traditionelle Gerichte wurden gekocht: gegrilltes Fleisch und empanadas (gefüllte Teigtaschen). In alten Trachten tanzte man cueca, stolz in diesem Land geboren zu sein. Unser Freiwilligenteam feierte mit Bibianas Familie im Haus ihrer Großeltern. Jedes Jahr kommen hier über fünfzig Leute zusammen, um das Leben zu feiern. Bibiana ist eine junge Dozentin, die eine von uns Freiwilligen bei sich beherbergt. Ihre Familie war sehr erfreut, Vertreter so vieler verschiedener Länder im Haus zu haben. Und für uns war es wunderbar, die chilenische Gastfreundschaft kennenzulernen und in die Festtagsstimmung mit hineingenommen zu werden.
Während der 200-Jahrfeier war immer wieder von den 33 verschütteten Bergleuten in Copiapó die Rede. Sie waren 17 Tage nach dem Unfall entdeckt worden und haben insgesamt sechs Wochen in einem Stollen fast 700m unter der Erdoberfläche zugebracht. Ich erinnere mich an den Tag, als wir im Radio hörten, dass sie noch am Leben waren, dass das Team der Rettungsleute den genauen Ort des Schutzraumes ermittelt hat und mit ihnen in der Tiefe Kontakt hat: überall spontane Freudensausbrüche, die Autos hupen auf den Straßen und Fahnen werden geschwungen. Die Wochen zuvor hatten eine Verzweiflung und Sorge um das Leben dieser Männer wachsen lassen. Und dann das Wunder! Sie haben überlebt und sind gefunden worden; das war das beste Ereignis für ein Land, das noch immer gekennzeichnet ist vom Erdbeben vor gut einem halben Jahr. Viele Menschen drücken ihren Dank darüber aus, dass „Gott so gut war zu diesen Männern.“ Die christlichen Wurzeln des chilenischen Volkes sind offensichtlich. Sie bringen das im Alltag und in Zeiten großer Trauer oder Freude zum Ausdruck.
Einige von uns machten sich über das Wochenende auf in die an der Pazifikküste gelegene Stadt Concepción, wo wir von der Familie einer Freiwilligen unseres Teams eingeladen worden waren. Die Leute empfingen uns mit offenen Armen. Wir konnten einige Gegenden besuchen, die durch das Erdbeben und den Tsunami vor sieben Monaten dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Kaum zu glauben, wie ganze Blocks wie Kartenhäuser einstürzen konnten. Eine der drei Brücken über den Fluss Biobio verschwand. Die zweite, schwerbeschädigte Brücke wird derzeit repariert. Die einzige Brücke, die momentan in Gebrauch ist, trägt noch Spuren der Erschütterungen. In der Vorstadt Talcahuano sind die Schäden offensichtlich; die „Null-Zone“ war von einer riesigen Welle überschwemmt worden, die nach dem Beben auf die Küste prallte. Zwischen den noch stehenden Häusern klaffen riesige Lücken, wo die anderen Häuser standen.
Auch die Spuren der Plünderei sind noch immer zu sehen. Weit vom Strand entfernt gibt es außerdem noch immer viele Boote und selbst größere Fischkutter, die durch die Kraft des Wassers aus der Bucht aufs Land getragen wurden. Die costanera – eine Art Strandpromenade am Hafen – ist noch immer Baustelle. Schlimmer ist jedoch der Anblick der unzähligen Familien, die in den kleinen Ein-Zimmer Holzhütten, den sogenannten mediaguas, auf vier oder fünf Quadratmetern leben. Diese waren in der Eile aufgebaut worden und bieten oftmals Leuten Schutz, die schon mehrfach von ähnlichen Naturkatastrophen heimgesucht worden waren. Die Hütten wurden oft von jungen Freiwilligen aus anderen Landesteilen aufgebaut. Die Solidarität und der Gemeinschaftsgeist der chilenischen Bevölkerung ist bemerkenswert. Jugendliche hatten alles stehen und liegen gelassen, um denen zu helfen, die alles verloren hatten.

Unser Vorbereitungsteam besucht jeden Tag Gemeinden in und um Santiago und bereitet gemeinsame Gebete vor. Wir laden Jugendliche zu unserem Pilgerweg ein. Ja, wir sind Fremde in diesem Land, wir lernen Menschen kennen, hören ihnen zu und erzählen von unserem Vorhaben. Es hilft zu sehen, dass trotz unserer kulturellen Unterschiede das Wesentliche des christlichen Lebens das selbe bleibt: ein weiter Blick auf die Dinge, Stille und Gebet. In gelebter schlichter Nachfolge sind wir glücklich darüber, dass Gott uns begleitet. Jede Woche das Leben zu feiern bedeutet, uns jeden Tag dem Geheimnis des auferstandenen Christus zuzuwenden.
In Santiago sind die Entfernungen manchmal sehr weit und die Fahrten können ermüdend sein. Die Freiwilligen, die mit den Gemeinden im Norden der Stadt Kontakt haben, erleben, dass es für die Leute hier ein Geschenk ist, einen Fremden empfangen zu dürfen, auch wenn man nicht viel zu bieten hat. Nach jedem Treffen kommt eine gewisse Freude auf – mitunter über ein einziges Wort oder eine schlichte Geste – die uns motiviert, unsere Arbeit mit den Brüdern von Taizé und den Schwestern von Saint André fortzusetzen. Jenseits der Stadtgrenze, im sogenannten Vikariat Maipo, werden ebenfalls Vorbereitungen für den Empfang der chiquillos (Jugendlichen) getroffen. Fast überall begegnen uns die Leute mit Enthusiasmus und akzeptieren unsere Einladung. Jeden Abend gibt es Gebete und Treffen mit den Vorbereitungsteams.
Der südliche Stadtrand unterscheidet sich am meisten von den höher gelegenen, wohlhabenderen Stadtteilen, der sogenannten Cordillera. Hier gibt es starke soziale Unterschiede. Vom ersten Moment an waren Leute bereit, zu helfen und sich an die Arbeit zu machen. Hier gibt es auch die höchste Dichte kirchlicher Schulen. Die eigentliche Herausforderung ist es, die Jugendlichen in den Schulen und Gruppen zum Pilgerweg einzuladen.