Worte von Frère Alois

Während des Europäischen Treffens sprach Frère Alois jeden Abend zu den jungen Teilnehmern:

Samstag, 28. Dezember 2019

Heute war ein großer Empfang und ein guter erster Tag des Treffens! Es ist eine große Freude, wieder in Wrocław zu sein, wo bereits vier Mal ein Europäisches Treffen stattgefunden hat: zweimal in dieser Stadt, einmal in Warschau und das letzte Mal in Poznań.

Bereits heute möchte ich all denen danken, die uns aufnehmen. Was für eine herzliche Gastfreundschaft! Dass alle Jugendlichen in Familien aufgenommen werden, ist ein Zeichen des Evangeliums. In Polen sagt man: „Gość w dom, Bóg w dom“ – „Ein Gast im Haus ist Gott im Haus.“

Bei der Ankunft haben heute alle die „Vorschläge für das Jahr 2020“ erhalten, die den Titel tragen: „Unterwegs und doch verwurzelt bleiben.“ Mit diesen Worten wurde vor langer Zeit das Leben einer polnischen Frau, Urszula Ledochowska, beschrieben.

Sie war eine Bürgerin Europas und ihrer Zeit voraus: Sie besuchte viele Länder, in denen sich Schwestern ihrer Kongregation, die der Ursulinen, sich niederließen. Einige dieser Schwestern leben heute in Taizé und helfen uns, zusammen mit den Schwestern von St. André, junge Menschen aufzunehmen und zu begleiten.

Hier in Polen hat der Glaube vielen Menschen tiefe Wurzeln gegeben, sodass sie auch in der Not einen außergewöhnlichen Mut zeigen können. Wir möchten auch unser eigenes Leben immer tiefer im Glauben verwurzeln und die Liebe Gottes zu jedem von uns annehmen.

Wir sind aus vielen verschiedenen Völkern und mit ganz verschiedenen Lebenserfahrungen hier zusammengekommen ... Diese Vielfalt hindert uns aber nicht daran, eine Erfahrung von Gemeinschaft zu machen. Im Gegenteil, diese Vielfalt hat zweifellos viel mit dem Willen Gottes für uns zu tun: Gott will uns in die Einheit zusammenführen, durch Christus, der Gemeinschaft ist.

Und diese Einheit in der Vielfalt ist ein Zeugnis, das über die Kirche hinausgeht. In den Herausforderungen der heutigen Welt, in den unruhigen Zeiten, die der europäische Kontinent durchlebt, können wir versuchen, diese Botschaft der Gemeinschaft immer weiter zu tragen.

Bereits 1989, in einem historischen Moment, waren wir hier in Wrocław. Damals wehte ein Wind der Begeisterung und der Freiheit, und ließ Hoffnung aufkommen. Heute findet diese neue Etappe unseres Pilgerwegs des Vertrauens in einem schwierigeren Kontext statt.

Aber unser Treffen ist hat noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Wir wollen die Einheit und die Solidarität stärken, um unsere Verantwortung in der Welt besser wahrnehmen zu können.

In dieser Einheit und Solidarität, die wir zu leben versuchen, möchten wir, dass die Ärmsten ihren Platz haben. In den Gastgemeinden werdet ihr Menschen begegnen, die sich um diejenigen kümmern, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, um Kranke, Strafgefangene, Ausländer ... so viele Zeichen der Hoffnung.

„Unterwegs und doch verwurzelt bleiben.“ Wir haben heute Abend die Stelle aus dem Buch Genesis gehört, in der Abraham auf Gottes Verheißung hin alles verlassen hat, um mit seiner Frau Sara in ein ihnen unbekanntes Land zu ziehen.

Wagen auch wir es, ein Leben ohne „Wenn und Aber“ zu führen! Glauben wir daran, dass Gott uns führt – von der Angst zum Vertrauen. Vertrauen auf sich selbst, Vertrauen auf andere. Dieses Vertrauen auf Gott ruft uns auf, unsere falschen Sicherheiten aufzugeben.

Wir wollen uns auf die Gegenwart des Heiligen Geistes stützen. Er wird uns in schwierigen Zeiten Mut schenken und die nötige Phantasie, selbst in dieser geschichtlichen Epoche, in der sich alles mit schwindelerregender Geschwindigkeit ändert. Ja, er macht uns fähig, die Angst abzulegen und Vertrauen zu fassen.

Sonntag, 29. Dezember 2019

Heute Abend möchte ich ein paar Worte über eine kürzliche Etappe unseres Pilgerwegs des Vertrauens sagen: das Jugendtreffen in Kapstadt, in Südafrika, zu dem die verschiedenen Kirchen der Stadt eingeladen hatten.

Südafrika ist ein großes Land, das der Welt gezeigt hat, welche Kraft im Widerstand gegen die Apartheid und in einer gewaltfreien Wende liegen kann. Doch die Wunden der Geschichte sind immer noch tief – unsere Brüder, die dort zwei Jahre lang lebten, haben dies erfahren.

Weiße, Schwarze und Farbige haben unterschiedliche Lebensweisen und begegnen sich nur selten. Die Stadtteile sind voneinander getrennt und es gibt kaum Verbindungen. In diesem Zusammenhang war es nicht leicht, die Leute zu bitten, einen Jugendlichen fünf Tage lang bei sich aufzunehmen, ohne im Voraus zu wissen, ob er schwarz, weiß oder farbig sein würde.

Bei einem Vorbereitungstreffen sagte eine Frau: „Natürlich haben wir Angst, aber wir wissen, dass wir es tun müssen.“ Einem Fremden die Tür zu öffnen ist nie leicht, doch in Kapstadt war die Herausforderung noch größer.

Zu Beginn des Treffens sagte ich zu den über 2000 Jugendlichen: „Wir haben in Taizé keine besondere Botschaft, die wir euch geben könnten. Ihr selbst lebt die Botschaft unseres Treffens, indem ihr euch gegenseitig aufnehmt.“

In allen unseren Ländern müssen wir Menschen aufnehmen, die von anderswoher kommen, manchmal von sehr weit weg. Dies ist eine beunruhigende und unsichere Situation. Gleichzeitig ist sie eine enorme Bereicherung. In Polen werden viele Menschen aus der Ukraine aufgenommen, die hier Arbeit finden. Und so freuen wir uns, dass bei diesem Treffen – nach den polnischen Teilnehmern – die Ukrainer am zahlreichsten vertreten sind.

In Taizé, das kann ich bezeugen, sind wir durch die Menschen, die wir auf ihrer Flucht aufgenommen haben, reich beschenkt – vielleicht mehr als das, was wir geben. Das ist nicht immer einfach. Besonders schwer war für uns der Tod des jungen Samir. Nachdem er den Sudan, sein Heimatland, verlassen hatte, erlebte er die Sklaverei in Libyen und überquerte das Mittelmeer auf einem kleinen Boot.

Aber als er bei uns in Frankreich ankam, starb er nach wenigen Wochen an einer Herzkrankheit. Das war ein großer Schock. Ein paar Monate später konnte ich in den Sudan fahren und seine Mutter besuchen. Ich fand sie in ihrer ärmlichen Behausung in Khartum. Sie war untröstlich.

Doch dann stand sie auf einmal auf und sagte: „Gott hat gegeben, Gott hat genommen, gelobt sei der Name Gottes!“ Ich werde diese Begegnung nie vergessen und bewahre die Worte dieser Mutter, die Muslimin ist, im Herzen.

Andere leben als Fremde auf dieser Erde, nicht weil sie von weither kommen, sondern weil sie an den Rand gedrängt werden. Das kann mit Einsamkeit oder Verlassenheit zu tun haben, mit erlittener Gewalt oder mit Krankheit, Armut oder Arbeitslosigkeit ... Manche Armut ist sichtbar, aber es gibt auch weniger sichtbare Formen von Armut.

Selbst unter Menschen, denen es materiell an nichts fehlt, stellen manche den Sinn ihres Lebens infrage; sie fühlen sich ausgeschlossen, wie Fremde auf Erden. Wie können wir ihnen nahe sein, ihnen zuhören und uns von ihnen berühren lassen?
Menschliche Anteilnahme und Brüderlichkeit gehören zu den wichtigsten Werten. Morgen früh könnt ihr in den Kleingruppen in den Gemeinden anhand des Bibeltextes, den wir heute Abend gehört haben, darüber nachdenken.
Denken wir daran, wie Jesus zu den Kranken, den Ausgeschlossenen, den Fremden ging. Wir werden darin eine Inspiration finden, selbst ebenso zu handeln.

Montag, 30. Dezember 2019

Wir haben gerade eine der ersten Seiten der Bibel gelesen. Dieser poetische Bericht der Schöpfung unterstreicht die Verantwortung des Menschen im Universum: die Verantwortung, die Erde zu pflegen und zu erhalten. Diese Verantwortung ist der Menschheit von Gott anvertraut.

Ich möchte euch jungen Menschen danken und euch Mut machen. Ihr nehmt diese Verantwortung ernst. In Taize sind wir beeindruckt von dem Engagement so vieler von euch, die Schöpfung zu bewahren, die Artenvielfalt zu schützen und unsere Lebensweise zu vereinfachen.

Mit den Menschen meiner Generation müssten wir euch um Verzeihung bitten, dass wir diese Verantwortung so vernachlässigt haben. Das Konsumdenken hat viel zu viel Platz eingenommen, als ob sich das Glück kaufen ließe. Ihr drängt uns, unseren Lebensstil zu ändern, sodass wir einfacher leben und uns dabei auf das Wesentliche konzentrieren.

In den „Vorschlägen für 2020“ für morgen Früh geht es darum, dass angesichts des Umwelt- und Klimanotstands ein gemeinsames Zeugnis der verschiedenen christlichen Konfessionen möglich ist. Ja, es liegt ein Ruf darin, uns zu ökumenischen Initiativen zusammenzutun.

Um diese großen Herausforderungen der heutigen Zeit anzunehmen, brauchen wir einen Halt. In diesen Tagen gehen wir den Worten nach: „Unterwegs und doch verwurzelt bleiben.“ Ständig unterwegs zu sein, bedeutet nicht, in permanenter Instabilität zu leben; es kommt darauf an, unsere Wurzeln in einer beständigen Realität zu haben.

Vor Kurzem sprach ich mit einer der jungen Freiwilligen, die für mehrere Monate in Taize mitlebt. Sie kommt aus Japan und hat den Opfern des Tsunamis in der Gegend von Fukushima geholfen. Ich höre noch immer ihre Worte: „Dort leben viele entwurzelte Menschen, die alles verloren haben.“

Manchmal stehen wir hilflos vor dem Leid der Menschen. Denken wir also daran, dass das Gebet ein Weg ist, der uns immer offen steht. Ändert es etwas, wenn wir eine andere Person oder eine Schwierigkeit, die wir durchmachen, Gott anvertrauen? Wir wissen es nicht, und glücklicherweise können wir Gottes Antwort auf unsere Gebete nicht ermessen. Gott geht weit über unser eigenes Denken hinaus.

Aber eines ist sicher: Indem wir Gott alles anvertrauen, treten wir in eine tiefe Solidarität mit unserem Nächsten, wir nehmen teil an der Solidarität Christi, der auch heute mit jedem Menschen leidet, der Schweres durchmacht. Das Gebet treibt uns an, es macht uns verantwortlich für andere und für uns selbst.

Wenn wir anfangen zu beten, sind wir manchmal abgelenkt oder finden kaum Worte. Dann denken wir daran, dass Jesus Christus zutiefst in uns gegenwärtig ist und uns kennt. Unser Gebet mag sehr ärmlich sein, aber er versteht unser Herz. Wagen wir es, uns immer wieder bei ihm auszuruhen, allein oder im gemeinsamen Gebet mit anderen.

Heute Abend möchte ich nochmals allen danken, die uns hier aufnehmen, besonders denen, die ihre Türen den jungen Pilgern geöffnet haben, aber auch den Verantwortlichen der christlichen Gemeinschaften von Wroclaw und der Zivilbehörden. Einige von ihnen sind heute Abend hier.

Unser Pilgerweg des Vertrauens geht weiter. In etwas mehr als einem Jahr wird eine ganz besondere Etappe stattfinden: mit Jugendlichen aus vielen Ländern fahren wir ins Heilige Land, und zwar im Februar 2021. Nach unserem Treffen im vergangenen März in Beirut möchten wir unsere Solidarität mit den Friedenssuchern im Nahen Osten zum Ausdruck bringen.

Davor wird unser nächstes Europäisches Treffen sein, zu dem wir uns in einem Land treffen, das alle sehr gern haben. Wir werden in den Süden unseres Kontinents zurückkehren. Vom 28. Dezember 2020 bis zum 1. Januar 2021 werden wir in in Turin erwartet.

Dienstag, 31. Dezember 2019

Wir sind heute bereits am Ende unseres Europäischen Treffens. Noch einmal danken wir ganz herzlich allen, die uns aufgenommen haben, den Familien, den Kirchengemeinden, der Stadt und der Region von Wrocław und auch den vielen jungen Polen aus den anderen Teilen des Landes, die gekommen sind, um mitzuhelfen, damit wir uns hier zu Hause fühlen.

Während dieser gemeinsamen Tage haben wir zum Ausdruck gebracht, dass wir eine Zukunft in Frieden aufbauen möchten: in unserem eigenen Leben, in unseren Familien, an unseren Studien- und Arbeitsorten. Aber auch in unseren verschiedenen Ländern und darüber hinaus, in Europa und in der Welt.

Wir haben mit eigenen Augen gesehen, welch große Vielfalt unter uns besteht, und konnten uns darüber freuen. Jedes Land, jedes Volk, jede Region unseres Kontinents ist ein Mosaikstein Europas. Wir wollen unseren Kontinent nicht vereinheitlichen, sondern vielmehr die lokalen Besonderheiten, die Vielfalt der Traditionen und Kulturen schätzen.

Vergessen wir nicht, dass die Geschichte manchmal tiefe Wunden hinterlassen hat! Versuchen wir, die Entwicklungen in den verschiedenen Gegenden unseres Kontinents zu verstehen. Tun wir alles, angefangen bei uns selbst, die Vorurteile zu entlarven, die wir über andere haben. Fürchten wir uns nicht vor unseren Nachbarn, hören wir einander zu!

Die vor 30 Jahren für unseren gesamten Kontinent wiedergefundene Freiheit musste schwer erkämpft werden. Viele Menschen, besonders hier in Polen, haben einen hohen Preis dafür bezahlt. Für einige war ihre Verwurzelung im Glauben die Quelle ihres Engagements, manchmal unter Einsatz ihres Lebens.

Dieser Freiheitskampf war von einigen bemerkenswerten Ereignissen geprägt. Dazu gehört die Vergebung, welche die polnischen Christen dem deutschen Volk nach dem Zweiten Weltkrieg angeboten haben. Dies hat zu einer Versöhnung, einem Neuanfang beigetragen, der zu den Wundern in der Geschichte unseres Kontinents gehört.

Wir denken an diese Ereignisse zurück, die in Zeiten der Spannung oder der Missverständnisse geschahen, um daraus die Hoffnung zu schöpfen, dass auch heute eine andere Zukunft möglich ist. Natürlich sind die Herausforderungen verschieden; das wurde auch durch die Themen der Workshops der letzten Tage deutlich.

Morgen werden wir alle wieder nach Hause fahren. Aber wir sind uns, mehr denn je, bewusst, dass wir Teil einer großen Gemeinschaft sind, der Gemeinschaft der Kirche. In dieser Stadt Wrocław habt ihr der Kirche ein junges Gesicht gegeben.

In einer sich verändernden Welt müssen wir versuchen, das Evangelium auf immer neue Weise auszudrücken. In der Bereitschaft und dem Vertrauen Marias finden wir ein Vorbild: In sehr jungen Jahren hat sie das Unvorstellbare angenommen und ist zur Mutter Christi geworden. So hat sie der Menschheit den Weg zu einem Neuanfang geöffnet.

Die Entwicklung der Menschheit steht an einem Wendepunkt; lassen wir uns von der Wahrheit, der Demut und der Freude Christi leiten! Auf diese Weise können wir Christus den Weg bereiten, um heute zu uns zu kommen. Er wird uns die notwendige Phantasie schenken, um in der Welt von morgen stets unterwegs und doch verwurzelt zu bleiben.

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