Botschaft für das Jahr 2023

Inneres Leben und Solidarität

Wo finden wir die Quelle eines geschwisterlichen Zusammenlebens – aller Menschen und der gesamten Schöpfung? Auf diese Frage sind in den spirituellen Traditionen der Völker auf der Erde verschiedene Antworten entstanden.

Die Christen sind heute herausgefordert, ihren Glauben tiefer zu verstehen. Nicht, um sich aufzudrängen oder so zu tun, als hätten sie auf alles eine Antwort, sondern um noch entschiedener mit denen, die sich nicht einfach dem Schicksal überlassen, an den großen Fragen der Zeit zu arbeiten. Diese Botschaft für das Jahr 2023 will zur gemeinsamen Suche beitragen, wie ein christliches Leben in der heutigen Zeit vertieft werden kann.

„Beten und das Gerechte tun“ – Dieser Gedanke leitete in den schrecklichen Jahren des Zweiten Weltkriegs den Pfarrer Dietrich Bonhoeffer [1]. In seiner Gefängniszelle dachte er darüber nach, worin das Wesentliche des christlichen Lebens besteht. Inmitten der Katastrophe des Krieges wagte er es, in den dunkelsten Stunden seiner Zeit ganz klar zu sagen:

„Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neu geboren werden aus diesem Beten und diesem Tun.“ (Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, S. 435f)

Was sagen diese Gedanken uns heute? Die Antwort auf diese Frage steht jedem frei. In Taizé würden wir sagen: Noch intensiver aus unserem Inneren und aus einer Haltung der Solidarität leben. Mit anderen Worten: aus dem Gebet leben und den Kreis unserer Freundschaft erweitern ...

Das Zeugnis eines Menschen wie Dietrich Bonhoeffer kann uns helfen, die Zeichen der Gegenwart Gottes in unserem Leben zu erkennen. Bonhoeffer war sich bewusst, dass in seiner Epoche das Böse schlechthin am Werk war. Doch er besaß eine innere Kraft, um sich – wie viele andere, die bis heute extreme Gewalt und Unterdrückung erfahren – für die Hoffnung zu entscheiden, für das Vertrauen auf Gott, und nicht an den Menschen zu verzweifeln.

Auch wir können uns in der gegenwärtigen Situation für das Vertrauen entscheiden. Wir sind frei, in unserer Welt ein Licht zu erkennen, das von woanders herkommt. Selbst wenn wir Schweres durchmachen, selbst wenn Gott auf unseren Schrei nicht zu hören scheint, geht dieses Licht bereits wie der Morgenstern in unseren Herzen auf (2 Petrus 1,19).

Frère Alois


Sich für das Vertrauen entscheiden

Die junge Generation, und nicht nur sie, lebt heute mit großen Belastungen. – Was kann uns in dieser Situation einen neuen Blick schenken und uns schöpferisch werden lassen? Es gibt in der Tat viele Gründe, Angst zu haben, und das bestimmt oft, wie wir die Welt und uns selbst sehen. Manche hinterfragen sogar Gott und seine Gegenwart in der Welt.

Angst ist eine verständliche Reaktion. Sie kann uns auch helfen, die drohenden Gefahren zu sehen, und sie klar und ohne Naivität zu benennen. Doch wir dürfen dabei nicht in Fatalismus oder Zynismus verfallen, oder der Angst nachgeben. Dies könnte uns wie in einem Strudel nach unten ziehen.

Um nicht in eine Sackgasse zu geraten, gibt uns das Evangelium Orientierung: Es zeigt auf Jesus Christus. Er geht uns voraus. In seinem Leben hat Jesus Freude, aber auch Angst erfahren. Die Feindschaft gegen ihn nahm ständig zu und endete am Kreuz in schlimmster Gewalt. Doch der Tod hatte nicht das letzte Wort: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt; er lebt für immer. Das ist für uns kaum begreiflich. Die ersten Zeugen des Evangeliums ermutigen uns jedoch zu dem Wagnis, seiner Botschaft zu vertrauen.

Christus begleitet bis heute jeden Menschen und verkündet allen die bedingungslose Liebe Gottes. Durch den Heiligen Geist, den Atem Gottes, hilft er uns durchzuhalten und verleiht jedem Menschen eine Würde, die ihm niemand nehmen kann.

Lassen wir uns also nicht nur von dem beeindrucken, was von außen auf uns einströmt; öffnen wir uns auch diesem inneren Licht, diesem Vertrauen, das wir Glauben nennen.


Im Gebet neue Kraft schöpfen

Um unser Leben, unsere Mitmenschen und die Welt mit neuen Augen zu sehen, müssen wir einen Schritt nach vorne tun und uns in unserem Innersten der Gegenwart Gottes öffnen, der es gut mit uns meint. Es geht um eine innere Umkehr, oder Bekehrung, wie das Evangelium sagt. So werden wir bereit, uns von Gott trösten zu lassen und immer mehr zu lieben.

Wir alle können Orte und Zeiten der inneren Stille suchen, einen Raum schaffen, um hinzuhören und Gemeinschaft mit Gott zu finden. Bereits Jesus hat zu seinen Freunden gesagt: „Wenn du betest, geh in dein Zimmer und schließe die Tür. Dann bete zu deinem Vater, der an diesem verborgenen Ort ist.“ (Matthäus 6,6)

Diese Aufforderung scheint nicht ganz unserer Zeit zu entsprechen, in der die Polarisierung immer stärker und die gesellschaftlichen Brüche immer tiefer werden – auch in den Kirchen und Familien. In dieser Situation übertönen Lärm und Lügen oft die Stille eines langen inneren Reifungsprozesses.

Deshalb ist das Gebet so wichtig: Es ist eine Quelle der Hoffnung, ein Weg des inneren Friedens, durch den wir fähig werden, die Tür zum Dialog offenzuhalten – auch mit denen, die aus einem anderen Umfeld kommen als wir oder die sogar gegen uns sind.


Sich mit anderen auf den Weg machen

Wie sind nicht nur aufgerufen, alleine zu beten, sondern auch, uns mit anderen auf den Weg zu machen und Zeichen dieser Geschwisterlichkeit auf der Erde zu suchen. Ein inneres Leben bedeutet nicht, uns von den anderen zurückzuziehen, sondern auch, uns denen anzuschließen, die auf derselben Suche sind.

Machen wir uns also daran, die sichtbare Einheit der Christen aufzubauen! Und zwar nicht, um uns gegen eine als feindlich empfundene Welt zu rüsten, sondern um eine Kraft des Evangeliums freizusetzen. Um zum gemeinsamen Gebet zusammenzukommen, brauchen wir nicht zu warten, bis in allen theologischen Fragen Einmütigkeit herrscht.

Wenn wir als Christen verschiedener Konfessionen zusammenkommen, können wir den Eindruck bekommen, dass unsere Positionen unvereinbar sind. Dem ist auch manchmal so, zumindest auf begrifflicher Ebene. Doch anstatt uns nur darauf zu konzentrieren, können wir immer wieder aufs Neue zuallererst gemeinsam beten. Auf diese Weise leben wir die Einheit bereits und helfen dem Volk Gottes, einem gemeinsamen Glaubensbekenntnis näherzukommen.

Vielleicht können wir auf diese Weise auch die Kirche mit anderen Augen sehen, nämlich immer mehr als eine große Familie all derer, die sich in der Nachfolge Christi entschieden haben zu lieben. Um ein Ferment des Friedens zu sein, dürfen wir nicht länger an dem festhalten, was uns spaltet, und weiterhin nebeneinander auf parallelen Gleisen fahren, die sich niemals treffen!

Gleichzeitig mit dieser Suche nach sichtbarer Einheit müssen wir das Böse bekennen, das auch in unseren Kirchen begangen wurde, und müssen mit Entschiedenheit die notwendigen Veränderungen in Angriff nehmen. Das Vertrauen vieler Menschen wurde erschüttert. Auch in Taizé wurde Vertrauen missbraucht; wir sind uns dessen zutiefst bewusst. Vertrauen ist etwas Zerbrechliches, es muss immer erneuert und wiederhergestellt werden. Das ist nur möglich, wenn wir denen zuhören, denen Leid zugefügt wurde. [2]


Den Kreis unserer Freundschaft weit werden lassen

Um zu einem geschwisterlichen Zusammenleben auf der ganzen Erde beizutragen, ist die Kirche herausgefordert, ein Zeichen des kommenden Reiches Gottes zu sein und zu verstehen suchen, wozu der Heilige Geist sie heute beruft. Hier einige Herausforderungen, über die man gemeinsam mit anderen nachdenken kann:

- Das Gefühl der Zugehörigkeit wird für viele Menschen heute immer wichtiger, um die eigene Identität zu finden. Die eigene Zugehörigkeit kann sich jedoch nicht in Abgrenzung von anderen entwickeln, sondern in Respekt und gegenseitiger Begegnung. Ja, suchen wir im anderen nach dem, was wahr ist! Das bringt uns voran.

- Der Dialog zwischen Glaubenden verschiedener Religionen kann ein Raum gegenseitiger Achtung sein. In einem solchen Dialog können wir uns den anderen öffnen, wenn wir in unserer eigenen religiösen Tradition verwurzelt sind – so wie ein Baum tiefe Wurzeln braucht, um ausladende Äste zu tragen. Wahre Freundschaft ist möglich, auch wenn ein Schmerz darüber bleibt, dass der andere unsere tiefsten Überzeugungen nicht teilen kann.

- Vielen Menschen ist heute schmerzlich bewusst, wie sehr Rassismus und Diskriminierung verschiedenster Art die zwischenmenschlichen Beziehungen und auch viele Gesellschaften auf der Welt belasten. Überlegen wir gemeinsam, was uns zu einem neuen Blick auf die anderen verhilft, indem wir zum Beispiel Menschen zuhören, die ihr Heimatland verlassen haben ... Akzeptieren wir das Anderssein, was jede Begegnung zu einer Bereicherung macht.

- Hören wir auch genügend auf den Schrei der Erde? Unser menschliches Handeln und unsere Achtlosigkeit fügen unserem wunderbaren Planeten immer größeren Schaden zu – die zahlreichen Umweltkatastrophen und extremen Wetterphänomene in letzter Zeit an vielen Orten auf der Welt weisen darauf hin. Wir müssen uns dringend wieder die Verantwortung bewusst machen, die Gott der Menschheit übertragen hat. Politische und wirtschaftliche Entscheidungen sind notwendig. Aber wir alle können bereits jetzt unseren Lebensstil vereinfachen und wieder lernen, über die Schönheit der Schöpfung zu staunen.

- Angesichts des Kriegs in der Ukraine und an vielen anderen Orten auf der Welt, fällt es manchen Menschen schwer zu beten. Sie haben den Eindruck, Gott wäre abwesend oder würde zum Bösen schweigen. Doch wenn wir für den Frieden beten, erwacht unser Bewusstsein der Verantwortung und unsere Solidarität mit allen, die so schrecklich unter der Katastrophe des Kriegs leiden. Wir bitten nicht um einen „einfachen“ Frieden, der dem Angreifer den Sieg überlässt, sondern um einen echten und fordernden Frieden, der nur dann von Dauer ist, wenn er mit Gerechtigkeit und Wahrheit einhergeht. Ja, das Gebet für Frieden ist dringender denn je.


Den Glaubenden unter uns kann das Vertrauen auf Gott eine Hoffnung geben, die stärker ist als die Angst vor der Zukunft. Es geht nicht um eine naive Zuversicht, sondern um die tief in unserem Herzen verwurzelte Überzeugung, dass Gott in seiner Schöpfung am Werk ist und dass er auch uns dazu aufruft, unsere Verantwortung ernst zu nehmen – sowohl für uns selbst, als auch für die kommende Generation.

Wenn der Friede ein unerreichbares Ideal zu sein scheint, wenn Gewalt unsere Völker zerreißt und Gefahren aller Art uns erschüttern, dann können wir uns daran erinnern: In einem inneren Leben, so arm es auch sein mag, in einer Solidarität mit unserem Nächsten und dem Bemühen, den Kreis unserer Freundschaft weit werden zu lassen, kommt uns der auferstandene Christus entgegen. Er schenkt uns einen neuen Blick, er führt uns ins Weite, und über uns selbst hinaus, wie wir es nicht erwartet hätten. Werden wir uns ihm öffnen?

[1Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), der im Widerstand gegen Hitler aktiv und Mitglied der Bekennenden Kirche war, wurde 1943 inhaftiert und 1945 hingerichtet. Noch heute finden seine im Gefängnis geschriebenen Briefe und Aufzeichnungen großen Widerhall.

[2Siehe dazu die Stellungnahme von Frère Alois „In der Kirche und in Taizé muss das Bemühen um Wahrhaftigkeit weitergehen“, die anlässlich des Europäischen Jugendtreffens in Rostock veröffentlicht wurde und unter www.taize.fr/protection [http://www.taize.fr/protection] zugänglich ist.

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