TAIZÉ

EIN PORTRAIT

Mutter Teresa

 
Von Frère Roger, anläßlich ihrer Seligsprechung 2003:

Wir leben in einer Welt, in der Licht und Dunkelheit nebeneinander stehen. Mit ihrem Leben lud Mutter Teresa ein, sich für das Licht zu entscheiden. Damit erschloß sie vielen anderen Menschen einen Weg zur Heiligkeit. Augustinus schrieb vier Jahrhunderte nach Christus: „Liebe und sag es durch dein Leben.“ Mutter Teresa hat dieses Wort zugänglich gemacht. Das Vertrauen auf Gott wird vor allem dadurch glaubwürdig und vermittelbar, daß es gelebt wird.

Ich hatte wiederholt die Gelegenheit zum Gedankenaustausch mit Mutter Teresa. Oft konnte man erkennen, wie die Heiligkeit Christi sich in ihr widerspiegelte. Im Sommer 1976 besuchte Mutter Teresa Taizé. Unser Hügel war voller Jugendlicher aus zahlreichen Ländern. Gemeinsam schrieben wir ein Gebet: „Gott, Vater jedes Menschen, du bittest alle, Liebe dorthin zu tragen, wo Arme erniedrigt werden, Versöhnung dorthin, wo die Menschen uneins sind, Freude dorthin, wo die Kirche erschüttert ist... Du bahnst uns diesen Weg, damit wir Sauerteig der Gemeinschaft in der ganzen Menschheitsfamilie sind.”

Im selben Jahr lebten wir zu mehreren Brüdern eine Zeitlang unter Armen in Kalkutta. Wir wohnten in der Nähe des Hauses von Mutter Teresa, in einem heruntergekommenen, lauten Viertel voller Kinder; die Bevölkerung bestand mehrheitlich aus Muslimen. Eine Christenfamilie nahm uns auf; ihr Haus lag an einer engen Straßenkreuzung mit Läden und bescheidenen Werkstätten. Mutter Teresa kam oft zu unseren gemeinsamen Gebeten. Manchmal bat sie mich, sie am Nachmittag auf ihren Besuchen bei Leprakranken zu begleiten, die nur noch den Tod erwarteten. Sie suchte ihre Drangsal ein wenig zu lindern.

Sie war bisweilen zu unverhofften Vorstößen fähig. Als wir einmal einen Nachmittag lang Leprakranke aufgesucht hatten, sagte sie im Auto zu mir: Ich muß Sie um etwas bitten – sagen Sie Ja! Bevor ich mein Wort gab, versuchte ich herauszufinden, worum es ging. Sagen Sie Ja!, beharrte sie. Schließlich rückte sie mit ihrem Wunsch heraus: Stimmen Sie zu, ab jetzt den ganzen Tag über Ihr weißes Gewand zu tragen; in der heutigen Zeit braucht es solche Zeichen! Ich antwortete: Ich werde mit Brüdern darüber sprechen und es selbst so oft wie möglich tragen. Sie ließ mir durch ihre Schwestern ein weißes Gewand schneidern und nähte es teilweise selbst.

Sie widmete sich mit Vorliebe Kindern und legte mir nahe, zusammen mit einem Bruder, der Arzt ist, jeden Morgen in das Kindersterbehaus zu gehen und schwerkranke Kinder zu versorgen. Vom ersten Tag an fiel mir ein vier Monate altes Mädchen auf. Ich erfuhr, daß es zu schwach war, um dem Winter mit seinen Krankheitserregern standzuhalten. Mutter Teresa meinte schlicht: Nehmen sie es mit nach Taizé, dort ist es ihnen möglich, es gesund zu pflegen.

Auf dem Rückflug nach Frankreich ging es dem Kind nicht gut. Bei der Ankunft in Taizé brabbelte es zum ersten Mal wie ein glückliches Baby. In den ersten Wochen schlief es auf dem einem Arm, während ich mit dem anderen schrieb. Allmählich kam es zu Kräften. Es zog ins Dorf um, in ein nahegelegenes Haus, zu meiner Schwester Geneviève. Sie hatte schon Jahre zuvor in Taizé Kinder aufgenommen und großgezogen, als wären es ihre eigenen. Seit seiner Taufe bin ich sein Pate, und ich liebe es wie ein Vater.

Einige Jahre später, an einem Herbstsonntag, war Mutter Teresa erneut in Taizé. Wir kamen überein, während des Gebets, an dem zahlreiche Jugendliche teilnahmen, in einem gemeinsamen Text eine Sorge anzusprechen, die bis heute besteht: „In Kalkutta gibt es sichtbare Sterbehäuser, aber in zahlreichen Ländern der Erde befinden sich viele Jugendliche in unsichtbaren Sterbehäusern. Sie sind davon gezeichnet, daß durch ihr Leben ein Riß geht, daß nahestehende Menschen mit ihnen gebrochen haben, daß sie sich um ihre Zukunft Sorgen machen. Der Abbruch menschlicher Beziehungen hat sie ohne ihr Verschulden in der Kindheit oder Jugend verwundet. Manche verlieren jede Zuversicht: Wozu das alles? Hat das Leben noch einen Sinn?“

Zwei Brüder und ich waren zu den Feierlichkeiten ihrer Beisetzung in Kalkutta. Wir wollten Gott an Ort und Stelle für Mutter Teresas Lebenshingabe danken und mit ihren Schwestern im Geist des Lobpreises singen. An ihrer Bahre kam mir in den Sinn, was uns gemeinsam war. Wir lebten beide in der Gewißheit, daß Gemeinschaft in Gott uns drängt, das Leid der Menschen zu lindern. Ja, wenn wir Menschen in Not und Bedrängnis beistehen, begegnen wir Christus. Er hat es selbst gesagt: „Was ihr den Geringsten tut, das tut ihr Christus, das tut ihr mir.“

Letzte Aktualisierung: 26. Juni 2007