„Vergesst die Gastfreundschaft nicht; durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ (Hebräer 13,2)
Auf allen Kontinenten finden seit Jahrzehnten Jugendtreffen statt, die wie Stationen auf einem von Taizé ausgehenden „Pilgerweg des Vertrauens“ sind.
Zu den tiefsten Eindrücken bei diesen Treffen gehört – sowohl für die jungen Teilnehmer als auch für die Gastgeber – die Erfahrung der Gastfreundschaft.
Erst im letzten August haben wir bei einem Treffen in Hongkong erlebt, welche Bedeutung die Gastfreundschaft hat. Dort waren Jugendliche aus vielen Ländern Asiens zusammengekommen – zum Teil aus Ländern, zwischen denen die Wunden der Geschichte noch nicht verheilt sind.
Allein aus den verschiedenen Provinzen Chinas waren siebenhundert Jugendliche nach Hongkong gekommen. Die Anwesenheit von jungen Menschen aus so vielen verschiedenen Ländern und die Gastfreundschaft der Familien waren ein Zeichen der Hoffnung.
Obwohl die jungen Christen in Asien oft nur eine kleine Minderheit in einer sich schnell verändernden Gesellschaft sind, versuchen sie, aus dem Glauben an Christus und aus der Gemeinschaft der Kirche Kraft zu schöpfen.
Das ganze Jahr 2019 – zunächst beim Europäischen Treffen in Madrid und danach bei den Jugendtreffen in Taizé, Beirut, Kapstadt und an zahlreichen anderen Orten – werden wir über verschiedene Aspekte der Gastfreundschaft nachdenken.
Die folgenden Vorschläge möchten Christen aus dem Glauben heraus helfen, in Gott eine Quelle der Gastfreundschaft zu finden. So kann sich das Bild, das wir von Gott haben, verändern: Gott schließt niemals einen Menschen aus; er nimmt jeden an.
Wir Brüder der Communauté sehen, dass die Erfahrung der Gastfreundschaft sowohl Christen verschiedener Kirchen als auch Glaubende anderer Religionen und Nichtglaubende anspricht.
Erster Vorschlag
Die Quelle der Gastfreundschaft in Gott finden
Von Anbeginn der Welt ist Gott auf geheimnisvolle Weise am Werk. Dies wird in den Schöpfungsberichten im ersten Buch der Bibel auf poetische Weise beschrieben. Alles, was Gott ins Dasein rief, betrachtete er und segnete es: Er sah, dass alles von ihm Geschaffene gut war. Das gesamte Universum ist von Gott zutiefst geliebt.
Auch wenn wir manchmal nur wenig von Gott verstehen, können wir das Vertrauen haben: Gott will, dass wir glücklich sind. Er nimmt jeden Menschen an, und zwar bedingungslos. Er ist die Quelle der Gastfreundschaft.
Ja, mehr noch: Gott ist durch Christus einer von uns geworden, um die Menschheit zu sich zu führen und aufzunehmen. Diese Gastfreundschaft Gottes berührt uns zutiefst; sie geht weit über unsere menschlichen Grenzen hinaus.
• Angesichts der Gefahren unserer Zeit könnten wir entmutigt werden. Um die Hoffnung nicht zu verlieren, müssen wir die Augen öffnen und immer wieder staunen über all das, was bewundernswert ist.
• Lesen wir die Bibel – für uns allein oder zusammen mit anderen! Beginnen wir bei den Evangelien, die das Leben Jesu beschreiben. Wir verstehen vielleicht nicht alles auf Anhieb und sind manchmal auf Hilfe angewiesen. Doch wir können uns der Bibel wie einer Quelle nähern; dabei wächst unser Vertrauen auf Gott.
Der jüngere Sohn kehrte zu seinem Vater zurück. Dieser sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. (Lukas 15,20)
Was sagt mir dieses Gleichnis aus dem Lukasevangelium (15,11-32) über die Gastfreundschaft Gottes?
Zweiter Vorschlag
Die Gegenwart Christi in unserem Leben entdecken
Gott schenkt uns seine Gastfreundschaft, und indem wir sie in Freiheit erwidern, entsteht wahre Gemeinschaft mit ihm.
Durch die Person Jesu wissen wir, dass Gott die Liebe ist: Gott bietet uns seine Freundschaft an. Demütig steht er vor unserer Tür und klopft an. Wie ein Armer bittet er uns, dass wir ihn aufnehmen. Wer ihm öffnet, bei dem tritt er ein.
In einem ganz einfachen Gebet öffnen wir ihm unser Herz. Christus kommt und wohnt in uns, selbst wenn wir kaum etwas von seiner Gegenwart spüren.
• In einer Kirche beten, und sei es nur für einen kurzen Moment; sich morgens oder abends Zeit nehmen, um unseren Tag Gott anzuvertrauen – das lässt uns auf lange Sicht innerlich wachsen. Wenn wir uns die Gegenwart Christi in Erinnerung rufen, werden wir frei von Ängsten. Wir verlieren die Angst vor anderen, vor dem eigenen Ungenügen oder vor einer ungewissen Zukunft.
• Auch wenn wir nur wenig Zeit haben, sprechen wir mit Christus über uns und über andere in Nah und Fern – in wenigen Worten, ganz leise. Sagen wir ihm, was uns bewegt, und was wir nicht verstehen! Ein Wort der Bibel kann uns den ganzen Tag begleiten.
Der auferstandene Christus sagt: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir.“ (Offenbarung 3,20)
Wie kann ich die Stimme Christi hören? Wie kann ich ihm „die Tür öffnen“?
Dritter Vorschlag
Unsere Gaben und unsere Grenzen annehmen
Gott nimmt uns an, so wie wir sind; wir dürfen uns also auch selbst annehmen. Damit beginnt der Weg einer Heilung, die wir alle brauchen.
Danken wir Gott für unsere Gaben. Nehmen wir unsere Schwächen an als eine Tür, durch die Gott in unser Leben eintreten kann. Er möchte den Weg einer Veränderung unseres Lebens mit uns gemeinsam gehen. Dafür müssen wir uns zunächst selbst annehmen.
Die eigenen Grenzen zu akzeptieren, macht uns nicht gleichgültig gegenüber Unrecht und Ausbeutung. Im Gegenteil, wir können darin die Kraft finden, um mit einem versöhnten Herzen zu kämpfen.
Der Heilige Geist ist ein Feuer, das tief in uns brennt. Er verwandelt nach und nach, was sich in und um uns herum dem Leben widersetzt.
• Um unsere Gaben zu entdecken und unsere Grenzen anzunehmen, brauchen wir einen Menschen, dem wir vertrauen, der uns aus einem gewissen Abstand heraus mit Wohlwollen zuhört und uns so hilft, im Leben und im Glauben zu wachsen.
• Vergessen wir nicht, Gott im Gebet zu loben! Unser Lobpreis schenkt unserem Leben Einheit. Das gemeinsame Gebet im Gesang ist durch nichts zu ersetzen. Es klingt in uns nach.
Jesus sagte: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht.“ (Matthäus 11,28-30)
Von welcher Last und welcher Ruhe spricht Jesus hier? Was kann ich von ihm lernen?
Vierter Vorschlag
Die Kirche als einen Ort der Freundschaft entdecken
Um gemeinsam mit anderen aus dem Vertrauen auf Gott zu leben, brauchen wir Orte, an denen wir nicht nur bekannte Gesichter treffen, sondern wo wir unsere Freundschaft Menschen schenken können, die anders sind als wir.
Die Kirchengemeinden und Gemeinschaften an einem Ort können Menschen verschiedener Generationen, sozialer und kultureller Herkunft zusammenführen. Das ist ein Schatz der Freundschaft, der allzu oft im Verborgenen schlummert!
Wie schön, wenn jede Kirchengemeinde ein Ort wäre, an dem wir – wie in einer großen Familie – wir selbst sein können, mit unseren Fragen und Zweifeln, ohne Angst, verurteilt zu werden ...
Wo der Heilige Geist wirkt, ist Kirche, überall dort, wo die Freundschaft Christi erstrahlt. In manchen südlichen Ländern setzen sich kleine kirchliche Basisgemeinden sehr engagiert für andere ein – in der Nachbarschaft, im Dorf. Könnte das nicht eine Anregung für die Kirche in anderen Ländern sein?
• Kommen wir mit einigen anderen regelmäßig zum Gebet und zum Austausch zusammen, tragen wir das Leben der gesamten christlichen Gemeinde in unserer Stadt oder unserem Dorf mit! Eine solche kleine Gruppe könnte zum Beispiel auf diejenigen zugehen, die am Sonntag zum ersten Mal zum Gottesdienst kommen und noch niemand kennen.
• Christus will alle, die ihn lieben und ihm nachfolgen, über ihre konfessionelle Zugehörigkeit hinaus, in eine einzige Gemeinschaft zusammenführen. Die Gastfreundschaft ist ein Weg der Einheit. Laden wir immer häufiger auch diejenigen zum gemeinsamen Gebet ein, die in unserer Umgebung leben und ihren Glauben auf andere Weise zum Ausdruck bringen als wir!
Vor seinem Tod am Kreuz sah Jesus seine Mutter und bei ihr den Jünger, den er liebte. Da sagte er zu seiner Mutter: „Frau, siehe, dein Sohn!“ Dann sagte er zu dem Jünger: „Siehe, deine Mutter!“ Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. (Johannes 19,25-27)
Nach dem Willen Jesu ist unter dem Kreuz eine neue Familie entstanden. Wie können wir heute diese Gemeinschaft leben?
Fünfter Vorschlag
Großzügig gastfreundlich sein
Die Gastfreundschaft, die Gott uns entgegenbringt, ruft uns auf, andere so anzunehmen, wie sie sind, und nicht so, wie wir sie uns wünschen. Aber nehmen wir auch die Gastfreundschaft der anderen an, und zwar so, wie diese sie leben.
• Bemühen wir uns, für andere offen zu sein – indem wir uns Zeit nehmen, zuhören, zu uns zum Essen einladen. Gehen wir auf Menschen zu, die unsere Hilfe brauchen, und sei es nur, indem wir ein freundliches Wort für die haben, denen wir begegnen ...
• Die Migration auf der Welt stellt uns vor große Herausforderungen. Suchen wir nach Wegen, wie Gastfreundschaft zu einer Chance für alle werden kann – nicht nur für die Aufgenommenen, sondern auch für die, die andere aufnehmen! Lernen wir einander kennen, und lassen wir uns von Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, erzählen, was sie durchgemacht haben. Die Begegnung mit Menschen aus anderen Ländern wird uns helfen, auch unsere eigenen Wurzeln und unsere eigene Identität besser zu verstehen.
• Nehmen wir uns der Erde an! Dieser wunderbare Planet ist unsere gemeinsame Heimat. Achten wir darauf, dass sie ein Ort ist, an dem jeder gerne lebt, auch noch die kommenden Generationen. Überdenken wir unseren Lebensstil und setzen wir alles daran, die Ausbeutung der Ressourcen aufzuhalten! Gehen wir gegen jegliche Art von Umweltverschmutzung und gegen das Artensterben vor! Wenn wir mit der Schöpfung solidarisch leben, entdecken wir, welche Freude davon ausgeht.
Jesus sagte: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40)
„Man soll sich der Schwachen annehmen, in Erinnerung an die Worte Jesu, des Herrn, der selbst gesagt hat: „Geben ist seliger als nehmen.“ (Apostelgeschichte 20,35)
Habe ich schon einmal das Glück erfahren, das im Geben besteht?
Bin ich nicht auch selbst darauf angewiesen, etwas von anderen zu erhalten?