In den vergangenen eineinhalb Jahren hat sich unsere Communauté von Taizé auf ein Abenteuer des Glaubens eingelassen: Zusammen mit verschiedenen Bewegungen, Gemeinschaften und Organisationen vieler christlicher Kirchen haben wir eine „Versammlung des Volkes Gottes“ unter dem Titel „Together“ [1] vorbereitet. Die Anregung dazu hatte Frère Alois [2] anlässlich der Eröffnung der Synode über die Synodalität in der katholischen Kirche gegeben. Die Vorbereitung dieser Versammlung bot uns die Gelegenheit, anderen noch intensiver zuzuhören und die Gaben zu suchen, die sowohl in verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften bestehen, als auch unter Menschen guten Willens in der Gesellschaft.
Zum ökumenischen Abendgebet auf dem Petersplatz in Rom kamen auf Einladung von Papst Franziskus über 20 führende Vertreter verschiedener Kirchen, sowie die 364 Teilnehmer der 16. Ordentlichen Bischofsversammlung der katholischen Kirche und mehr als 18.000 Menschen allen Alters aus der ganzen Welt zusammen. Unter ihnen waren 4.000 junge Erwachsene, die an einem Wochenendprogramm in Rom teilnahmen und von den Kirchengemeinden der Stadt aufgenommen wurden. Zeitgleich trafen sich an 222 Orten auf der Welt Menschen zum Gebet in Verbundenheit mit diesem Abendgebet.
Was können wir aus dieser Erfahrung rückblickend lernen? Was sagt sie uns darüber, wie wir in der Zukunft als Christen gemeinsam weitergehen können? „Nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder und Schwestern“, sagte Jesus (Matthäus 23,8). Sind nicht alle Christen Schwestern und Brüder und in einer zwar noch unvollkommenen, aber doch bereits bestehenden Gemeinschaft vereint? Ist es nicht Christus, der uns einlädt, uns zusammen mit ihm und den Menschen am Rand unserer Gesellschaft auf den Weg zu machen? Auf diesem Weg wollen wir im Dialog Versöhnung suchen und uns daran erinnern, dass wir aufeinander angewiesen sind – nicht um unsere Meinung durchzusetzen, sondern um zum Frieden in der Menschheitsfamilie beizutragen. [3]
In der Dankbarkeit dafür, dass dieses Gemeinschaftsbewusstsein zunimmt, können wir die Kraft finden, um uns den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen: Dazu gehört es, den Schrei der Erde wahrzunehmen und den Polarisierungen entgegenzutreten, welche die Menschheitsfamilie spalten. Machen wir uns als Volk Gottes gemeinsam auf den Weg, gehen wir aufeinander zu und hören wir, was andere uns zu sagen haben!
Was heißt es für uns, von Neuem anderen wirklich zuzuhören? Sind wir bereit, auf die Menschen einzugehen, die von ihren Ängsten sprechen, und sie nicht abzulehnen?
Auf meiner Heimreise von Rom nach Taizé habe ich in Ljubljana, der Hauptstadt Sloweniens, haltgemacht, dem Ort des 46. Europäischen Jugendtreffens [4]. Ich habe dort mit dem Vorbereitungsteam gesprochen, mit den jungen Freiwilligen aus verschiedenen Ländern, den Brüdern der Communauté, Schwestern von St. André und mit jungen Slowenen, die wir gut kennen. Die folgenden Gedanken zum Thema „Gemeinsam auf dem Weg“ sind im Wesentlichen aus diesen Gesprächen hervorgegangen.
Ich danke meinen Brüdern und allen, die am Entstehen dieser Botschaft mitgewirkt haben und die sich mit uns auf den Weg machen.
In geschwisterlicher Verbundenheit,
Frère Matthew
In Ljubljana sagte mir jemand: „Obdachlosigkeit ist in der heutigen Gesellschaft nicht nur die Frage eines materiellen Zuhauses. Für viele Menschen ist Obdachlosigkeit eine innere Wirklichkeit. Aber die Suche nach innerer Sicherheit kann uns auch auf Gedanken bringen, die uns nur noch weiter in die Einsamkeit treiben.“ Jemand anderes fragte: „Wie weit müssen wir miteinander übereinstimmen, bevor wir uns gemeinsam auf den Weg machen können? Manchmal täuschen leere Phrasen darüber hinweg, dass wir die anderen lediglich tolerieren. Doch indem wir uns einem Dialog öffnen, gehen wir ein Risiko ein.“ – In welche Richtung führen uns diese Fragen?
Einander zuhören
In einem Dialog geht es zuallererst darum, einander zuzuhören. Moses sagte zum Volk Gottes: „Shema Yisrael – Höre, mein Volk!“ (Deuteronomium 6,4) Diese Worte gaben dem täglichen Gebet des Volkes seinen Namen. Jahrhunderte später beginnt die Mönchsregel des Benedikt von Nursia [5] mit dem Wort:„Höre!“
Im Herzen des Zuhörens liegt die Stille. [6] Die Bibel gibt uns dafür viele Beispiele: Elia begegnet Gott in einem leisen Säuseln, nicht in Erdbeben, Sturm oder Feuer (1 Könige 19,11–13). Maria, die Schwester von Marta, sitzt Jesus zu Füßen und hört ihm zu (Lukas 10,39) [7]. In einem alten Gebet der Bibel heißt es: „Du hast mein Ohr geöffnet.“ (Psalm 40,6)
Wir haben heute oft den Eindruck, dass sich diejenigen durchsetzen, die am lautesten schreien. Gewalt scheint vielerorts zuzunehmen und wir wissen kaum noch, wohin wir uns wenden sollen. Aber Gewalt kommt niemals von Gott, [8] er drängt sich niemals auf: „Ich will hören, was Gott spricht: Frieden verkündet der Herr seinem Volk.“ (Psalm 85,9)
Besteht der Weg nach vorne nicht darin, zuzuhören und die anderen zu verstehen versuchen? Ein „hörendes Herz“ (1 Könige 3,9) versucht niemals, uns gefügig oder – angesichts von Unrecht – mundtot zu machen. Es verleiht uns vielmehr Kraft, mutige und kreative Entscheidungen zu treffen, die in unserer tiefsten Überzeugung wurzeln, dort, wo Gott uns näher ist als wir es auch nur zu hoffen wagen ...
Auf dem Weg sein
Gehen wir wie Touristen oder wie Pilger durchs Leben? Reisen wir, um zu besichtigen, oder bewegt uns eine tiefe innere Sehnsucht? Wer als Pilger unterwegs ist, auch wenn er den Bestimmungsort seiner Reise nicht kennt, sucht bei jedem Schritt einen Sinn und spürt intuitiv, wohin es geht. Ohne Ziel unterwegs zu sein, kann dazu führen, dass wir umherirren. [9]
Denken wir in solchen Situationen an die Worte Jesu: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Johannes 14,6) Mit Jesus unterwegs zu sein bedeutet, diese drei Wirklichkeiten zusammenzuhalten: Jesus selbst ist der Weg, dem wir folgen, wir können seinen Worten vertrauen. Er führt uns in eine Fülle, die wir uns nie hätten vorstellen können.
Jesus hat niemanden daran gehindert, sich mit ihm auf den Weg zu begeben. Er war in einer Gemeinschaft mit Gott verwurzelt und hat sein Leben mit allen geteilt, die zu ihm kamen – mit Gerechten und mit Ungerechten. In den Menschen am Rand der Gesellschaft hat er die Gegenwart Gottes erkannt – in Sündern und Ausgestoßenen, und sogar in denen, die nicht zu seinem Volk gehörten. Jesus gab, was er hatte, aber er empfing auch etwas von den Menschen, denen er begegnete: Sie waren für ihn eine Herausforderung, und oft eine Bereicherung.
Lädt uns Jesus, gütig und von Herzen demütig, [10] nicht auf diesen Weg mit ihm ein? Suchen wir die Großzügigkeit der Demut [11] und nehmen wir an, was andere uns auf diesem Weg geben können!
Das Leben der Kirche und der Gesellschaft besteht darin, gemeinsam unterwegs zu sein. Dennoch braucht jeder Mensch Raum, um seine Kreativität und seine Ideen zum Ausdruck zu bringen. Diese sind uns gegeben, um sie mit anderen zu teilen und uns für das Zusammenleben in der Kirche und der Menschheitsfamilie einzusetzen. Die Saiten einer Gitarre liegen nebeneinander, aber erst wenn sie zusammen gespielt werden, entsteht ein schönen Klang ...
Mit anderen zusammen sein
Es ist nicht immer leicht, mit anderen zusammen zu sein. Jeder von uns lebt mit Verletzungen. Manchmal haben wir uns auch gegenseitig verletzt.
Mit Menschen zusammen zu sein bedeutet, ihnen zuzuhören, ihnen Raum und Zeit zu geben, damit sie uns ihre Geschichte erzählen können. [12] Zuhören bedeutet, sie in ihrer Verschiedenheit anzunehmen. Wir mögen nicht unbedingt einer Meinung sein, wir vertreten vielleicht sogar eine andere Weltanschauung, aber das Erstaunliche ist, dass wir, wenn wir zuhören und andere ihre Geschichte erzählen lassen, oft besser erkennen, was uns als Menschen gemeinsam ist. Unsere Unterschiede sind oft geringer als wir gedacht haben. Einheit in Verschiedenheit ist tatsächlich möglich. [13] Wer Jesus wirklich nachfolgen will, stellt womöglich mit Erstaunen fest, dass in Gott und Christus zwischen uns bereits eine Einheit besteht (Johannes 17,21–23), die über unsere Erwartung hinausgeht.
Sind wir bereit, das Wort derer an uns heranzulassen, die über ihre Verletzungen sprechen, selbst wenn sie uns sagen, dass wir sie verletzt haben? – Wir verfallen leicht in Mechanismen der Selbstverteidigung; wir hören nicht mehr zu und versuchen, uns zu schützen oder unseren Standpunkt zu verteidigen. Bedeutet Barmherzigkeit nicht, das Leid anderer ernst zu nehmen? Manchmal kann gemeinsames Leiden einen Weg öffnen, den wir zusammen gehen können, auch wenn wir das Leid nicht hinter uns lassen können. [14]
Bisweilen müssen wir einen Schritt zurückgehen. In diesen Momenten können wir uns dem Heiligen Geist anvertrauen und uns von ihm zeigen lassen, was wir wissen müssen. [15] Das bedeutet, demütig zu sein und anderen unsere Ideale nicht aufzuzwingen, sondern anzunehmen, was andere uns mitteilen. [16]
Auch dürfen wir niemals die Hoffnung aufgeben. [17] Der Apostel Paulus war von der unendlichen Liebe des auferstandenen Christus überwältigt, nachdem er ihn zuvor heftig bekämpft hatte. Er versichert uns, dass durch den Heiligen Geist, der uns gegeben wurde, die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen ist (Römer 5,5). Selbst wenn wir diese unaufdringliche Gegenwart nicht spüren, können wir uns auf sie verlassen. Dann wird das Vertrauen, so zerbrechlich es auch sein mag, in uns neu geboren und gibt uns gerade genügend Licht, um gemeinsam mit Gott und mit den Menschen, die uns anvertraut sind, den nächsten Schritt zu tun.
Bei Gott bleiben, bei den anderen bleiben
Unsere Reise braucht Zeit – sogar ein ganzes Leben – genauso wie das Zuhören Zeit braucht, damit Beziehungen wachsen können. Hier kommen geduldiges Ausharren und Treue ins Spiel. Mit anderen auf dem Weg, mit Gott auf dem Weg. – Für viele von uns sind diese Wirklichkeiten untrennbar miteinander verbunden. Wir brauchen beides. [18]
Wie die Reben am Weinstock wachsen, lädt Jesus uns ein, in ihm zu bleiben, so wie er in uns bleibt (vgl. Johannes 15). „Bleiben“ deutet auf Dauer hin. Von uns ist nicht nur ein vorübergehendes Engagement verlangt; wir sollen vielmehr unser ganzes Leben in ihm bleiben. Nur so können wir weiter wachsen und Frucht bringen.
Worin besteht diese Frucht? Jesus fährt fort und sagt: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe. Niemand hat eine größere Liebe, als wenn er sein Leben für die hingibt, die er liebt.“ Dieser Weg bedeutet das Wagnis, alles aufzugeben, um Jesus nachzufolgen. So können wir in großer Freiheit bis zum Ende lieben. Die Liebe des Evangeliums ist mehr als Zuneigung, sie ist die Hingabe unserer selbst an andere. Darin besteht der Weg unseres Lebens, auf dem wir von Dienern zu Freunden Christi werden. Ein in Fülle gelebtes Leben trägt Frucht. Diese Frucht wächst ganz natürlich, wenn wir in Christus bleiben und aus seinem Leben schöpfen, so wie die Reben ihr Leben vom Weinstock empfangen. Darin können wir eine Fülle der Freude entdecken, wenn wir uns der Herausforderung des Evangeliums stellen. – Sind wir dazu bereit?
Gemeinsam in der Welt von heute unterwegs
Angesichts der heutigen Herausforderungen und unserer eigenen Zerbrechlichkeit fühlen sich manche Menschen, wie bereits erwähnt, obdachlos. Wir haben Gottes verwundete Schöpfung vor Augen, von der die verwundete Menschheitsfamilie ein Teil ist. Leid kann von Völkern, die ausgebeutet und gedemütigt wurden, über Generationen weitergegeben werden. Wir kennen Familien, die durch Konflikte und Kriege auseinandergerissen wurden. Und wir erkennen an, dass durch Menschen, die in der Kirche und auch in unserer Communauté von Taizé den Namen Christi bekennen, Leben verletzt wurde. [19]
Aber sind wir nicht aufgerufen, uns diesen Herausforderungen gemeinsam zu stellen! Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Eine lange Reise gemeinsam zu unternehmen, macht sie kurz.“ Bei der „Großen Wanderung“ der Wildtiere zwischen Serengeti und Masai Mara müssen sich die jüngeren Tiere auf die Kraft der erwachsenen verlassen, um den Fluss zu überqueren und das andere Ufer hinaufzugelangen. Auch für uns gibt es Zeiten, in denen wir auf andere angewiesen sind und lernen müssen, uns von anderen tragen zu lassen ...
Und wenn wir uns diesen Herausforderungen gemeinsam stellen, können wir eine Erfahrung von Schönheit und Transzendenz machen. Das hilft uns, den Funken zu erkennen und mit neuer Kraft aufzubrechen. [20]
Am Tag der Auferstehung Jesu verließen zwei seiner Freunde Jerusalem, wo Jesus hingerichtet worden war (Lukas 24,13–35). Unterwegs stieß ein Fremder zu ihnen. Als sich dieser später zu ihnen an den Tisch setzt, erkennen sie, dass das, was sie erlebt hatten, Jesus war. Fremde können uns helfen, die Gegenwart Christi zu erkennen und aufs Neue zu begreifen, dass er für immer bei uns ist.
„Fürchtet euch nicht!“, flüstert er leise in unserem Herzen, „ich bin bei euch, alle Tage bis zum Ende der Zeiten.“ (Matthäus 28,20) Werden wir auf diese Verheißung hören?
Wir können uns so unbedeutend und hilflos vorkommen wie Sauerteig, der unter das Mehl gemischt wird (Matthäus 13,33). Wagen wir es dennoch, wieder aufzubrechen – nicht allein, sondern zusammen mit anderen, um uns auf unserer gemeinsamen Reise gegenseitig zu bereichern?