Ich möchte mit einem Zitat von Frère Roger, dem Gründer der Communauté von Taizé, beginnen. Es stammt aus dem letzten Text, den er vor seinem Tod im Jahr 2005 an die Jugendlichen geschrieben hat, einem Brief mit dem Titel „Eine Zukunft in Frieden“:
„Das Gebet entzieht uns nicht den Sorgen der Welt. Im Gegenteil, nichts ist verantwortlicher als zu beten: Je einfacher und demütiger unser Gebet ist, desto mehr werden wir dazu geführt, zu lieben und es durch unser Leben zum Ausdruck zu bringen.“
Und der orthodoxe Theologe Olivier Clément schrieb in seinem Buch „Taizé, einen Sinn fürs Leben finden“:
„Eine tiefe geistliche Erfahrung verbunden mit einer schöpferischen Offenheit für die Welt – darin bestehen die Treffen in Taizé, die seit vielen Jahren unter dem Motto ‚Inneres Leben und menschliche Solidarität‘ stehen. Darum geht es im Christsein: Je mehr man zu einem Menschen des Gebets wird, desto mehr nimmt man auch seine menschliche Verantwortung wahr.
Das Gebet befreit uns nicht von den Herausforderungen dieser Welt: Es macht uns noch verantwortlicher. Nichts ist verantwortlicher als zu beten. Das muss man verstanden haben und den jungen Menschen verständlich machen. Das Gebet ist keine Ablenkung, es ist keine Art ‚Sonntagsdroge‘. Es verweist uns auf das Geheimnis des Vaters, in der Kraft des Heiligen Geistes, vor einem Antlitz, das uns das Antlitz des Menschen offenbart und uns zu dessen Dienern macht.“
Ich möchte nicht weiter theoretisch über dieses Thema sprechen. Man verfällt leicht in gut gemeinte Worte, die nichts mit dem Leben derer zu tun haben, die vom Hass bedroht sind. Man könnte versucht sein, einfache Lösungen anzubieten, Balsam für den Augenblick, die auf lange Sicht aber Gefahr laufen, das Gefühl noch zu verstärken, vergessen zu sein und allein einem Feind gegenüberzustehen, der den Hass schürt.
Daher schlage ich vor, einigen Zeugen zuzuhören, die ich in den letzten Monaten in Taizé und anderswo getroffen habe. Um auf die Worte von Olivier Clément zurückzukommen: Das Gebet „verweist uns auf das Geheimnis des Vaters, in der Kraft des Heiligen Geistes, vor einem Antlitz, das uns das Antlitz des Menschen offenbart und uns zu dessen Dienern macht.“ Versuchen wir, diese Gesichter zu entdecken, die das Antlitz uns enthüllt.
Ich war im Mai mit zwei meiner Brüder in der Ukraine. Bei diesem Anlass sagte der Großerzbischof der griechisch-katholischen Kirche, Swjatoslaw Schewtschuk, vor der am Wallfahrtsort Sarwanyzja versammelten Bischofskonferenz zu uns: „Das Gebet öffnet einen Raum, der Heilung ermöglicht.“
Diese Bemerkung hat mich beeindruckt. Ein Mann, der ständig mit dem Leid seines Volkes konfrontiert ist, sieht, dass der verletzte Mensch in einem inneren Leben Heilung findet. Dies ist ein Prozess, der nicht unbedingt zu einem unmittelbaren Ergebnis führt, aber vielleicht zusammen mit anderen Mitteln eine Öffnung ermöglicht, um zu überwinden, was uns verletzt hat.
Menschen, die nicht beten können, hilft das Wissen, dass andere für sie beten, um die Herausforderungen des Kriegs zu überwinden. Eine Frau, die wir im Mai in der Ukraine getroffen haben, schreibt:
„Ich bin 32 Jahre alt. Ein Drittel meines Lebens drehten sich meine Gespräche, Gedanken und Gebete Tag für Tag um den russisch-ukrainischen Krieg – zehn Jahre meines Lebens. Manchmal denke ich, dass mein Herz so groß ist wie ein Planet: Der Schmerz über das Verlorene ist groß, aber die Hoffnung auf eine freie Ukraine ist noch größer. Bitte, betet für uns! Betet für unsere Freiheit!“
Eine junge Frau aus einem asiatischen Land erzählte uns kürzlich in Taizé:
„Seit drei Jahren herrschen in unserem Land viele Konflikte. Tausende Häuser wurden niedergebrannt und Menschen umgebracht. Es gibt immer mehr Binnenvertriebene sowie Opfer von Landminen und anderen Menschenrechtsverletzungen. Immer noch sind viele Menschen ohne Schutz und humanitäre Hilfe.
Ich arbeite für Caritas meines Landes, um den Menschen zu helfen. Wir besuchen sie regelmäßig und hören ihre Geschichten. Ich (...) kann nicht alle Bedürfnisse erfüllen. Doch die Tatsache, dass ich sie besuche und ihnen aus tiefstem Herzen zuhöre, tröstet sie und gibt ihnen Sicherheit und Ruhe.
Ich habe im Leben noch nie jemanden um etwas gebeten, weil Gott mir alles, was ich brauche, im Überfluss gibt – noch bevor ich ihn darum bitte. Ich habe eine gute Ausbildung, eine gute Arbeit und ich kann Menschen in ihrer Not helfen. Zudem gibt es Menschen, die mich bewundern und mir nacheifern. Worüber sollte ich also klagen? Ich bin gesegnet! Ja, ich bin wirklich gesegnet.
Gott hat sein Volk nie im Stich gelassen und er hält seine Versprechen immer. Er ist für jeden von uns da, wenn wir ihn brauchen.
Danke, dass ihr für und meine Stadt betet, in der gerade ein Konflikt herrscht. Viele Menschen sind in andere Städte gezogen, weil sie glauben, dort in Sicherheit zu sein. Meine Familie aber ist noch dort.“
Ich frage mich: Wie kommt es, dass diese junge Frau im Herzen so fröhlich ist und nicht in Hass versinkt? – Das liegt vor allem daran, dass ihr eigenes und das Gebet anderer sie trägt und sie für ihr Volk offen macht, um den Menschen im derzeitigen Krieg konkret zu helfen.
Das Gebet gibt einem auch in schwierigsten Situationen Halt. Es ist eine Möglichkeit, die Flut der Entmutigung aufzuhalten, wenn alles dunkel ist. Eine palästinensische Mutter, die zurzeit in Frankreich lebt, deren Familie sich aber in Gaza befindet, hat geschrieben:
„Die Liebe, welche die Verletzten und Schwachen trägt, gibt einem wieder Kraft. Das erinnert mich an den Gelähmten, der von seinen Freunden und deren Glauben getragen wurde. Das Gebet ist auch eine Art des Widerstands; das ist mir wichtig.
Aber auch ich bin ein Mensch: Als ich erfuhr, dass zwei meiner Familienmitglieder ermordet wurden, hat mich die Wut gepackt; ich habe geschrien und geweint ... Doch als ich wieder zu mir kam, wusste ich, dass in all dem Leid und der Verzweiflung Gott da ist und dass er uns trägt. Seine Liebe lindert dieses Leiden, und in meinem Gebet nimmt er sich dessen an. Davon bin ich überzeugt. Er ist bei den Menschen, bei jeder und jedem von ihnen.“
Als diese palästinensische Frau im Sommer in Taizé war, sagte sie: „Ich bete jeden Morgen um die Kraft, zu lieben und nicht zu hassen.“ Ihre Worte sind für uns wie ein Licht auf dem Weg.
Am 7. März dieses Jahres haben wir einen 34 km langen Friedensmarsch von Taizé nach Givry unternommen. Die Entfernung von Gaza nach Rafah beträgt 33 km. Die 33 km erinnerten uns auch an die 33 Jahre, die Jesus auf Erden gelebt hat, bevor er sein Leben für alle hingab, um unser Friede zu werden und den trennenden Hass zu zerstören (Epheser 2,13–14). Wir dachten dabei auch daran, dass es in der Tradition des Talmuds in jeder Generation 36 Gerechte gibt, die verborgen sind und die selbst nicht wissen, dass sie zu den Gerechten gehören. Das Leben der Welt hängt von ihnen ab. Unser Pilgerweg kam dieser Zahl nahe.
Wir wollten uns auch daran erinnern, dass die Communauté von Taizé während des Kriegs entstand, und dass die ersten Jahre prägend waren: die Aufnahm von Flüchtlingen, darunter Juden, und der Kontakt mit Kriegsgefangenen nach der Befreiung. Unser Fußmarsch führte über die Demarkationslinie, die von 1940 bis 1942 Frankreich in eine freie und eine besetzte Zone teilte.
An vier Stationen hörten wir Erfahrungsberichte und beteten, um den Menschen in Gaza und im Westjordanland nahe zu sein, den israelischen Geiseln und ihren Familien, den Menschen in Myanmar, den Opfern des Kriegs im Sudan und den Menschen in der Ukraine, die um ihre Existenz kämpfen. Eine Fürbitte galt auch den Menschen, die sich unter autoritären Regimen für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen.
Jeder Teilnehmer unseres Weges bekam am Anfang einen Stein mit dem Namen eines Menschen aus einem Konfliktgebiet. Wir sollten diese Person während des Tages in Gedanken mit uns tragen und für sie beten, und dies auch danach fortsetzen. Unser Pilgerweg hatte mit folgendem Gebet begonnen, mit dem ich nun schließen möchte:
„Treuer Gott, Pilgergott, du gehst uns stets voran. Sei diesen Tag über bei uns allen, die wir uns zu Fuß, im Gebet oder in Gedanken auf den Weg machen. Wo immer wir sind – unterwegs, in den Kirchen oder zu Hause – du sprichst durch Menschen zu uns, deren Berichte wir heute hören. Öffne unser Herz, damit wir den Schrei der Unschuldigen vernehmen, die unter dem Krieg leiden, der über sie hereingebrochen ist. Sende deinen Heiligen Geist; er begleite uns und erinnere uns daran, dass dein Sohn, Jesus Christus, unser Frieden ist. Durch ihn segnest du uns. Mache uns zu Pilgern des Friedens.“