Während des Sommers 2015 haben wir in Taizé nach konkreten Schritten einer neuen Solidarität gesucht. Diese ist gerade heute dringend notwendig. Überall auf der Erde entsteht neue Not: Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, Umweltkatastrophen und gesellschaftliche Ungerechtigkeit fordern Glaubende der verschieden Religionen und Nichtglaubende gemeinsam heraus, sich zu engagieren.
Durch bewaffnete Gewalt im Namen unmenschlicher Ideologien wird schreckliches Unheil angerichtet. Wir möchten in dieser Situation allgemeiner Unsicherheit einen klaren Blick bewahren und dabei der aufkommenden Angst widerstehen: Unser „Pilgerweg des Vertrauens“ geht weiter. Menschen, die auf eine weltweite Solidarität hoffen oder diese bereits leben, sind mehr denn je auf gegenseitige Unterstützung angewiesen.
„Als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, stürzte es nicht ein; denn es war auf Fels gebaut.“ (Matthäus 7,24-25) Wir möchten die Worte Christi zum Fundament unseres Lebens machen. Dann werden einige grundlegende Wirklichkeiten des Evangeliums, die jedem zugänglich sind, für uns zu einer festen Basis: Freude – Einfachheit – Barmherzigkeit. Frère Roger hat diese Worte in den Mittelpunkt des Lebens unserer Communauté von Taizé gestellt; sie halfen ihm auch in schwierigen Zeiten weiter und wurden für ihn so wichtig, dass er jeden Tag von Neuem auf sie zurückkam.
Diese drei Worte werden uns in den kommenden drei Jahren begleiten. Im Jahr 2016 beginnen wir mit der Barmherzigkeit – im Einklang mit Papst Franziskus, der zu einem „Jahr der Barmherzigkeit“ aufgerufen hat.
Das Evangelium ermutigt uns, Zeugnis dafür abzulegen, dass Gott mit den Menschen leidet. Die folgenden fünf Vorschläge sollen helfen, den Mut der Barmherzigkeit zu finden.
fr. Alois
Erster Vorschlag
Uns der Barmherzigkeit Gottes anvertrauen
Du bist ein Gott, der verzeiht, du bist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Güte. (Nehemia 9,17)
Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist! (Lukas 6,36)
Gott ist Barmherzigkeit, das heißt er ist Erbarmen und Güte – so steht es in der Bibel. Jesus zeigt im Gleichnis vom Vater und seinen zwei Söhnen (Lukas 15), dass uns die Liebe Gottes ohne Bedingungen geschenkt ist und nicht von unseren guten Taten abhängt. Der Vater liebt den Sohn, der ihm das ganze Leben lang treu war, aber auch den Sohn, der ihn verlassen hatte und umgekehrt war: Er kommt ihm von Weitem entgegen.
Gott hat die Menschheit nach seinem Abbild geschaffen. So konnte Basilius von Caesarea im 7. Jahrhundert schreiben: „Du wirst Gott ähnlich, indem du gütig bist. Suche nach Barmherzigkeit und Güte, um Christus wie ein Gewand anzulegen.“
Gottes Liebe ist nicht nur für einen Augenblick geschenkt, sondern für immer. Unser Mitleiden kann ein Widerschein dieser Liebe werden. Wir Christen suchen genauso wie unzählige Glaubende der anderen Religionen danach, Barmherzigkeit und Güte in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen.
++ Öffnen wir uns der Liebe Gottes. Gott verschließt uns niemals sein Herz. Seine treue Güte ist uns auch dann noch Schutz, wenn wir über unsere Fehler stolpern. Kehren wir ohne Angst zu Gott zurück, wenn wir uns von ihm entfernt haben! Vertrauen wir ihm! Er kommt immer wieder auf uns zu.
++ Betrachten wir das Gebet nicht wie ein mühevolles Suchen, sondern kommen wir in ihm zur Ruhe, um durchzuatmen. Dann erfüllt uns der Heilige Geist mit der Liebe Gottes und schenkt uns neue Kraft, um aus der Barmherzigkeit zu leben.
Zweiter Vorschlag
Immer wieder vergeben
Bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt euch gegenseitig, und vergebt, wenn einer dem anderen etwas vorzuwerfen hat. Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! (Kolosser 3,12-13)
Petrus fragte Jesus: „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal?“ Jesus sagte zu ihm: „Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“ (Matthäus 18,21-22)
Gott verweigert uns niemals seine Vergebung. Christus hat während seines ganzen Lebens vergeben, bis hin zum Kreuz. Niemals hat er auch nur einen einzigen Menschen verurteilt.
Wenn wir wissen, dass uns vergeben ist und wenn wir selbst vergeben, dann wird uns eine einzigartige Freude geschenkt, die befreit. Dies ist die Quelle des inneren Friedens, den Christus mit uns teilen möchte.
Die Kirche ist die Gemeinschaft derer, die Christus lieben. Sie ist dazu berufen, sich von der Barmherzigkeit verwandeln zu lassen. „Wenn die Kirche zuhört, wenn sie heilt und die Versöhnung lebt, wird sie zu dem, was sie dort ist, wo sie am hellsten leuchtet: Eine Gemeinschaft der Liebe, des Erbarmens und des Trostes, ein lauterer Widerschein des auferstandenen Christus. Wenn sie nie auf Distanz oder in Abwehrhaltung geht, und sich von jeglicher Strenge befreit, kann ihr demütiges Vertrauen des Glaubens bis tief in unser Herz strahlen.“ (Frère Roger)
Die Botschaft von der Vergebung Gottes darf nie benutzt werden, um Böses oder Unrecht gut zu heißen. Im Gegenteil: Die Botschaft der Vergebung Gottes macht uns frei, unsere eigenen Fehler klarer zu sehen, aber auch die Fehler und das Unrecht in unserer Umgebung und in der Welt. Wir müssen wiedergutmachen, was wiedergutgemacht werden kann!
++ Versuchen wir zu vergeben … auch wenn es siebzigmal siebenmal sein müsste. Und wenn die Wunden sehr tief gehen, müssen wir schrittweise vergeben. Manchmal möchten wir gerne vergeben, auch wenn eine leidvolle Erfahrung es uns über lange Zeit schwer macht.
++ Die Kirche ist eine Gemeinschaft der Barmherzigkeit, die niemanden diskriminiert. Machen wir dies deutlich, indem wir auf die Menschen in unserer Umgebung zugehen, indem wir Gastfreundschaft üben und niemanden verurteilen! Treten wir für die Unterdrückten ein, mit einem weiten und großzügigen Herz…
Dritter Vorschlag
Allein oder mit anderen auf Menschen in Not zugehen
Wenn du dem Hungrigen dein Brot reichst und den Darbenden satt machst, dann geht im Dunkel dein Licht auf, und deine Finsternis wird hell wie der Mittag. (Jesaja 58,10)
Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Liebe Gottes in ihm bleiben? (1 Johannes 3,17)
Die Barmherzigkeitsikone zeigt Christus, der uns mit einem liebevollen Blick das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt (Lukas 10): Ein Mann wurde überfallen und liegt halb tot am Straßenrand; ein Priester und ein Levit gehen achtlos vorüber. Erst ein Fremder, ein Mann aus Samarien, nimmt sich des Verletzten an, versorgt ihn und bringt ihn in eine Herberge.
Die Barmherzigkeit macht uns offen für die Not anderer, für versteckte Not, für materielle Armut und jegliches Leid – der Schmerz eines Kindes, eine Familie in Schwierigkeiten, ein Obdachloser, ein junger Mensch, der keinen Sinn im Leben sieht, ein alter Mensch, der in Einsamkeit lebt, Menschen im Exil – aber auch all diejenigen, die keinen Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur haben.
Christus erwartet uns in der Person eines Armen und sagt: „Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben.“ (Matthäus 25) „Durch sein Mitleiden nimmt Christus das Leid eines jeden Menschen auf sich. In seiner Güte nimmt er auf geheimnisvolle Weise Anteil am Leiden jedes Menschen, und dies bis zur Vollendung der Welt.“ (Maximus der Bekenner, 7. Jahrhundert)
Christus nimmt sich unserer Verletzungen an. Seine Zuneigung offenbart sich manchmal durch jemanden, der uns beisteht, manchmal auch durch einen Menschen, dem man sonst aus dem Wege gehen würde, wie zum Beispiel diesem Fremden, dem Samaritaner, im Gleichnis Jesu.
++ Wagen wir es, allein oder mit anderen auf Menschen in Not zuzugehen – in unserer eigenen Umgebung, am Rande unseres Weges. Barmherzigkeit ist nichts Sentimentales, sie führt uns an unsere Grenzen. Gesetze legen Pflichten fest; die Barmherzigkeit dagegen sagt niemals: „Es ist genug, ich habe meine Pflicht erfüllt.“
Vierter Vorschlag
Aus der Barmherzigkeit heraus unsere gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen
Ich, der Herr, bin es, der auf der Erde Gnade, Recht und Gerechtigkeit schafft. (Jeremia 9,23)
Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet. Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, und in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott. (Micha 6,8)
In Gottes Herz bilden alle Menschen eine einzige Familie. So nimmt die Barmherzigkeit immer weitere Dimensionen an.
Um auf der ganzen Welt als Geschwister zusammenzuleben, müssen die internationalen Institutionen gestärkt werden, die auf demokratischem Wege Regeln aufstellen, die eine größere Gerechtigkeit garantieren und Frieden schaffen.
Die Verschuldung der armen Länder der Erde ist oft infolge der Ausbeutung ihrer Ressourcen durch andere Länder und einflussreiche Unternehmen entstanden. Auch wenn wir selbst uns nicht in der Lage sehen, dies zu ändern, dürfen wir nicht vergessen, dass ein Schuldenerlass diesen Ländern lediglich Gerechtigkeit verschaffen würde. Bereits die Bibel – vor einem ganz anderen geschichtlichen Hintergrund – ruft uns dazu auf: „Wenn dein Bruder verarmt und sich neben dir nicht halten kann, sollst du ihn, auch einen Fremden oder Halbbürger, unterstützen, damit er neben dir leben kann.“ (Levitikus 25,35)
Auf der ganzen Welt sind Frauen, Männer und Kinder gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die Not, der sie ausgesetzt sind, ist so stark, dass keine Zäune sie aufhalten werden. Die reichen Länder müssen sich bewusst machen, dass sie mitverantwortlich sind für die geschichtlichen Wunden, die zu diesen enormen Migrationsströmen führen, insbesondere aus Afrika und dem Nahen Osten.
++ Vergessen wir nicht, dass – so groß die Schwierigkeiten auch sein mögen – der Strom der Flüchtlinge und Migranten auch eine Chance in sich birgt: Die Menschen, die an die Türen wohlhabenderer Länder klopfen, erwarten Solidarität; aber geben sie diesen Ländern nicht ihrerseits auch einen neuen Elan! Wenn die Länder Europas ihre Verantwortung angesichts der immer größer werdenden Zahl von Migranten gemeinsam annehmen würden, könnten sie eine verlorengegangene Dynamik wiederfinden.
++ Legen wir unsere Angst vor Fremden oder anderen Kulturen ab! Diese Angst ist zwar nachvollziehbar, aber sie wird nicht kleiner, wenn wir uns hinter Mauern verschanzen, sondern nur indem wir auf die uns Unbekannten zugehen. Außerdem sind viele, die aufopferungsvoll mithelfen, um die Migranten aufzunehmen, bereits am Ende ihrer Kräfte. Nehmen wir uns gegenseitig an, wie Angehörige einer Menschheitsfamilie, anstatt in den Fremden eine Bedrohung unseres Lebensstandards oder unserer Kultur zu sehen!
Fünfter Vorschlag
Barmherzigkeit für die ganze Schöpfung
Sechs Tage kannst du deine Arbeit verrichten, am siebten Tag aber sollst du ruhen, damit dein Rind und dein Esel ausruhen und der Sohn deiner Sklavin und der Fremde zu Atem kommen. (Exodus 23,12)
Sechs Jahre kannst du in deinem Land säen und die Ernte einbringen; im siebten sollst du es brachliegen lassen und nicht bestellen. (Exodus 23,10)
Die Bibel ruft uns – in der Sprache ihrer Zeit – auf, auch mit der Umwelt barmherzig umzugehen, alle Lebewesen zu achten und das Land nicht bedenkenlos auszubeuten. Ein Christ aus Mesopotamien schrieb im 7. Jahrhundert: „Ein Mensch, der Mitleid empfindet, kann nicht ertragen, Böses oder auch nur die kleinste Traurigkeit in der Schöpfung zu sehen.“ (Isaak von Ninive)
Die Ärmsten leiden oft besonders stark unter den Folgen von Umweltkatastrophen. Klimaveränderungen zwingen bereits heute viele Menschen, ihren angestammten Lebensraum zu verlassen.
Die Erde gehört Gott, der sie den Menschen als Geschenk zur Verfügung gestellt hat. Darin liegt eine sehr große Verantwortung, für unseren Planeten Sorge zu tragen und die Ressourcen nicht zu vergeuden. Die Erde ist begrenzt, daher müssen auch die Menschen ihre Begrenztheit anerkennen.
Die Erde ist unser gemeinsames Haus, und sie leidet. Die ungeheuren Schäden, die wir der Umwelt zufügen, dürfen uns nicht gleichgültig lassen: Ganze Arten sterben aus, die Vielfalt des Lebens ist bedroht, in bestimmten Gegenden der Erde werden die Wälder massiv abgeholzt.
++ Versuchen wir, unsere Solidarität mit der ganzen Schöpfung konkret umzusetzen: Ändern wir unser Alltagsverhalten, achten wir darauf, was wir und wo wir einkaufen und wie wir uns als Bürger verhalten! Versuchen wir, bewusst Maß zu halten! Ein einfacher Lebensstil kann zu einer Quelle der Freude werden. Einige Menschen haben begonnen, an jedem Ersten des Monats für Klimaschutz und Gerechtigkeit zu fasten. Wir müssen auf diese Weise zum Ausdruck bringen, dass Gott allem, was zu unserem gemeinsamen Haus, der Erde, gehört, Barmherzigkeit erweist; dies ist die Voraussetzung für ein glückliches Leben.