Nach dem Vortrag fand in der Stiftskirche ein gemeinsames Abendgebet statt, das Studierende beider Fakultäten zusammen mit dem BDKJ (Bund der Deutschen Katholischen Jugend) Diözese Rottenburg-Stuttgart und dem Evangelischen Jugendwerk in Württemberg vorbereitet hatten. Während des Gebets wandte sich Frère Alois an die Anwesenden:
Es ist für mich eine große Freude, heute hier in Tübingen zu sein, in dieser schönen Kirche und in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin. 1976 habe ich als junger Bruder von Taizé aus Frère Roger hierher begleitet. Er war damals nach Kalkutta unterwegs, um einige Zeit in einem Armenviertel in der Nähe von Mutter Teresa zu verbringen. Als erste Etappe dieser Reise wollte er Jugendliche in Deutschland besuchen. Frère Roger hat unermüdlich nach Gelegenheiten gesucht, die Grenzen zwischen Ost und West, Nord und Süd, Arm und Reich zu überschreiten. Diesen Weg möchten wir weitergehen.
Vor zwei Wochen haben wir Pfingsten gefeiert. Es lohnt sich, kurz auf die Bedeutung dieses Festes zurückzukommen, denn es geht nicht einfach um einen kirchlichen Festtag, sondern darum, dass der Heilige Geist, so wie damals an Pfingsten zu den Jüngern, auch heute zu jeder und jedem von uns kommt.
Wir machen oft die gleiche Erfahrung wie die Jünger Jesu. Sie hatten, als Jesus tot war, die Orientierung verloren und erst allmählich zu glauben begonnen, dass er wirklich auferstanden ist. Sie haben verstanden, dass er zwar nicht mehr physisch da ist, aber von nun an auf andere Weise bei ihnen sein wird, nämlich unsichtbar, durch den Heiligen Geist.
Durch den Heiligen Geist ist Christus jedem von uns auf geheimnisvolle Weise nahe. Der Heilige Geist ist das Leben Gottes, der Atem Gottes, der auch uns Leben und Kraft schenkt.
Für manche Menschen ist der Heiligen Geist wie ein Sturm, der ihr Leben völlig verändert. Aber meist ist er eher wie eine sanfte Brise, die man kaum spürt.
Jesus sprach vom Heiligen Geist als einem Tröster. Für Gott hat ausnahmslos jeder Mensch eine unendliche Würde. Durch den Heiligen Geist tröstet Gott, insbesondere diejenigen auf der Erde, die Not leiden.
Durch den Heiligen Geist kommt er und heilt die Wunden unseres Herzens, auch die, welche sonst niemand sieht; er weiß, dass wir uns danach sehnen, geliebt zu werden, so wie wir sind. Tief in uns sagt er immer wieder Ja zu unserem Leben. Gott schaut einen Menschen niemals streng an, sondern voll Güte und mit zärtlicher Zuneigung.
Öffnen wir uns für seine Gegenwart! Er ist uns nahe, aber er erdrückt uns nicht und nimmt uns unsere Freiheit nicht.
Als Jesus seine Jünger verlässt, sagt er: „Ihr werdet meine Zeugen sein bis an die Enden der Erde.“ Genauso sendet er uns alle, er vertraut uns und beruft uns, durch unser Leben seine Zeugen für die Menschen um uns herum zu sein.
Aber wie sollen wir Zeugen sein, wenn unser Glaube oft so klein ist? In einer Welt, in der es immer schwerer wird, Gott zu vertrauen, müssen wir uns immer wieder selbst die Frage stellen, warum wir an Gott glauben. Auf diese Frage eine persönliche Antwort zu geben, kann unserem Leben Sinn und Ausrichtung geben.
Aber niemand kann für sich alleine glauben. Wir sind im Glauben aufeinander angewiesen, denn nur gemeinsam können wir mit unseren Schwächen und Grenzen Zeugen der Liebe Gottes sein.
Wir sind alle wie Pilger unterwegs, die nach einer persönlicheren Gemeinschaft mit Gott und nach tieferer Gemeinschaft untereinander suchen. So ist unser Leben aus dem Glauben in erster Linie ein innerer Pilgerweg, auf dem wir in uns die Quellen freilegen, aus denen das Vertrauen auf Gott kommt.
Aber wir brauchen einander nicht nur, um im Glauben Zeugen der Liebe Gottes zu sein, sondern auch im gesellschaftlichen Leben und über Ländergrenzen und Kontinente hinweg. Deshalb gehen wir in Taizé der Frage nach, wie die Solidarität zwischen den Menschen vertieft werden kann, und wie in der heutigen Welt eine neue Solidarität entstehen kann.
Eine der Ursachen von Ungerechtigkeit und Gewalt ist, dass wir so wenig voneinander wissen. Wir Christen können einen wichtigen Beitrag zum Weltfrieden leisten, indem wir durch unsere persönlichen Beziehungen Brücken bauen, zwischen Arm und Reich, zwischen verschiedenen Ländern, zwischen unterschiedlichen Mentalitäten und Kulturen.
Und wir brauchen einander als Christen, die verschiedenen Kirchen zugehören. Nur in Gemeinschaft können wir „Salz der Erde“ sein, andernfalls verliert die Botschaft des Evangeliums ihren Geschmack.
Vor einigen Wochen trafen sich in Lyon die evangelischen Christen Frankreichs, um ein bedeutendes Ereignis zu feiern, die Einheit zwischen Lutheranern und Reformierten. Ich war zu diesem Treffen eingeladen und sagte dort: „Eure Einheit zeigt, dass wir heute nicht länger von Christus sprechen und weiterhin getrennt bleiben können. Wenn sich unsere Stimmen nicht vereinen, verhallt die Botschaft des Evangeliums und die Botschaft der Liebe Gottes bleibt ungehört.“
Und ich fügte hinzu: „Ihr habt heute ein gemeinsames Boot bestiegen. Dieses Ereignis lässt uns davon träumen, dass sich in absehbarer Zeit die verschiedenen christlichen Familien in Liebe und Wahrheit noch näher kommen und wir unsere Reise alle zusammen in einem einzigen Boot fortsetzen können, im Boot der sichtbaren Einheit aller Christen. Jeder wird auf diese Reise das Beste seiner Tradition mitnehmen und mutig alles zurücklassen, was nicht so wichtig ist.“
Damit komme ich zu meine letzte Frage: Worauf kommt es bei der Suche nach Einheit, nach Versöhnung und Solidarität besonders an? Eine Antwort ist: auf die Fähigkeit, uns in den anderen hineinzuversetzen und die Wirklichkeit so zu sehen, wie der andere sie sieht.
Diese Fähigkeit müssen wir bereits in jeder Freundschaft entwickeln! Es ist nicht leicht zu verstehen, wie der oder die andere die Dinge sieht, warum er oder sie so oder so reagiert, weder in einer Freundschaft noch in einer Paarbeziehung oder im Leben einer Gemeinschaft.
Aber es lohnt sich! Denn es macht offen und erweitert unseren Horizont. Wir verschließen uns nicht länger, sondern überwinden Misstrauen und Angst vor dem anderen.
Ja, versetzen wir uns in den anderen hinein, so können wir Vertrauen schaffen! Darauf kommt es in der Kirche und in der Welt von heute besonders an.
Aber was können wir tun, wenn uns dies nicht gelingt und unsere Bemühungen um Gemeinschaft scheitern? Vor allem und zuallererst eines: Uns immer wieder Christus zuwenden, uns seiner Vergebung und seiner Liebe öffnen, und dann von neuem auf den anderen zugehen und einen neuen Anlauf zur Gemeinschaft nehmen.
Und wenn wir nicht einmal das fertigbringen? Auch dann macht Christus uns niemals einen Vorwurf. Es sagt nur: „Geh den Weg weiter, der Heilige Geist trägt dich und steht dir bei.“
Als Christus nach der Auferstehung seinen Jüngern erschien, wollte er nicht wissen, warum sie nicht geglaubt und warum sie ihn verlassen hatten, als er am Kreuz hingerichtet wurde. Nein, seine einzigen Worte waren: „Friede sei mit euch!“
Vergessen wir also nicht: Wenn uns Gemeinschaft misslingt, wenn wir versagt und vielleicht sogar Schuld auf uns geladen haben, so sagt er auch dann noch: „Friede sei mit dir! – Geh auf deinem Weg voran!“ Darin liegt eine Dynamik, mit der Christus es uns schenkt, ihm immer von neuem nachzufolgen.