TAIZÉ

Tallinn 2024/25

Den Blick erfreuen und das Leben schön machen

 
Mit über 80 Jahren wohnt Anu Raud immer noch in dem abgelegenen Bauernhaus auf einer großen Wiese, das ihr Großvater 1924 gekauft hatte. Den Herd, die Küche, die Möbel und die Decken hat sie unverändert gelassen. Ihre Tapetenwebstühle und Arbeitsplatten hat sie auf die zwei Etagen des Holzgebäudes verteilt, in dem einst drei Familien wohnten. Hier empfängt sie auch Praktikanten.

Anu Raud vor seinem Haus, mit Mari Ann Oviir

Nach einer ausführlichen Besichtigung der Räumlichkeiten möchte sie uns in die Sauna neben einem Teich und dann in ihren Wald begleiten, „wo viele Wölfe vorbeikommen“ und wo wir ein paar Handvoll Walderdbeeren kosten. Danach steigen wir wieder nach oben und durchqueren noch den hölzernen Dachboden, der als Buchhandlung dient ...

Mit über 80 Jahren ist sie noch sehr aktiv. Neben Praktikantinnen und Praktikanten empfängt sie zahlreiche Besucher. Sie schreibt Briefe und betreut verschiedene Projekte und Ausstellungen. „Ich habe nicht genug Zeit für meine Arbeit. Und beim Zeichnen werde ich ständig von der Lust zu schreiben abgelenkt. Wenn ich schreibe, dann bekomme ich wieder Lust zu zeichnen!“ Sie ist ledig und kinderlos und hat ihr Leben ganz der Förderung der traditionellen Kultur und deren Weitergabe an die junge Generation gewidmet.

Inspiration findet Anu Raud in den traditionellen Motiven ihres Landes, aber auch beim Blick aus dem Fenster in die Umgebung. Ein Geist der Kindheit und der Poesie ermöglicht es ihr, den wenigen Elementen aus der Natur und den traditionellen Symbolen, die sie auf Textilien findet, wieder eine Tiefe zu verleihen, aus der sich ihre Zeichnungen und Wandteppiche zusammensetzen. Ihr ganzes Leben lang sammelte sie Textilien. Jede Region, jedes Dorf, jeder Bauernhof hat seine eigenen Muster und Farben ... Leinen und Wolle wurden mit Flechten, Moosen und anderen Pflanzen gefärbt. In der ehemaligen Schule von Heimtali, die Anu Raud 1991 gekauft hat, hat sie ihre Sammlung untergebracht. Sie vermachte dieses kleine Museum dem Nationalmuseum in Tartu, von dem es nun ein Ableger ist.

Zeichnungen von Anu Raud in ihrem Atelier

„Der Schlüssel zum Glück? Seine Bedürfnisse einschränken, genügsam sein, ein einfaches Leben führen, das Anhäufen von Dingen oder Reisen so weit wie möglich vermeiden. Eines Tages, als ich einen Bettvorleger machen wollte, dachte ich mir: Warum einen gewöhnlichen Bettvorleger machen, wenn das, was uns beim Aufstehen auffällt, unser erster Blick ist? Ein schöner Bettvorleger kann den ganzen Tag zum Strahlen bringen! Das hat meine Arbeit seither beeinflusst. Es ist wichtig, schöne Dinge um uns herum zu haben, die Freude und Licht spenden.“

„Im Sommer haben wir mehr Kraft zum Arbeiten. Das Licht hilft auch den älteren Menschen, die nicht mehr so gut sehen. Ich möchte noch mehr über die Tradition der in die Bäume geritzten Kreuze schreiben. Eine Interpretation ist, dass sie die Geister der Toten vertreiben und sie daran hindern sollen, zu den Lebenden zurückzukehren. Aber es gibt auch andere Deutungen. Wir stricken schöne Fäustlinge aus Wolle und schenken sie bekannten Persönlichkeiten, damit diese sie in der Öffentlichkeit tragen. Das wird unsere Volkskultur fördern. Früher trug der Priester während der Messe oder bei Beerdigungen Wollhandschuhe, weil es so kalt war. Der achtspitzige Stern (Kaheksa Kand oder acht Fersen) ist ein sehr beliebtes Motiv in unserem Land.“

Estnische Volkstänze im Freilichtmuseum von Roca al Mare im Juni 2024

Letzte Aktualisierung: 13. November 2024