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Nach dem Tod von Michael Brown, einem schwarzen Amerikaner, und nach den Rassenunruhen seit 2014 in Ferguson, einem Vorort von Saint Louis, hatte Erzbischof Robert Carlson die Communauté von Taizé eingeladen, in seiner Diözese ein Treffen vorzubereiten. Der Erzbischof hatte vom Pilgerweg des Vertrauens im Jahr 2013 im Indianerreservat von Pine Ridge in Süddakota gehört. Auch dort herrscht eine tiefe Vertrauenskrise. An beiden Orten sehen viele Jugendliche keine Zukunft für sich. Sie glauben den Versprechen der Politik nicht mehr. Die Brüder der Communauté haben die Einladung angenommen, unter der einzigen Bedingung, dass das Treffen zusammen mit allen Kirchen von Saint Louis ein Jahr lang vorbereitet wird.
„Abende des Vertrauens“
Monatelang waren zwei Brüder der Communauté in Saint Louis und Umgebung unterwegs und haben über 40 „Abende des Vertrauens“ vorbereitet. Diese Treffen fanden in katholischen, episkopalkirchlichen (anglikanischen), methodistischen (verschiedener Richtungen, darunter die afrikanisch methodistische Gemeinde von Sion), presbyterianischen, lutherischen, baptistischen und freikirchlichen Gemeinden statt. Eingeladen hatten gleichermaßen Stadtteile, die als gefährlich bekannt sind (Saint Louis hat eine der höchsten Kriminalitätsraten in den Vereinigten Staaten) und Villensiedlungen am Stadtrand. Jeder dieser Abende begann mit einem gemeinsamen Gebet, auf das ein Austausch in Kleingruppen folgte.
Für diese Gespräche hatten die Brüder zusammen mit einem örtlichen Vorbereitungsteam Fragen vorbereitet, die jeden Monat im Internet erschienen. Das Ziel war, ein Gespräch in Gang zu setzen, das über mehrere Monate weitergeht. Bei diesen Gesprächen zum Thema Vertrauen sollten die schlimmen Folgen des Rassismus und dessen strukturelle Gründe keinesfalls übergangen werden. Zusammen mit den Fragen wurde erläutert, um welche Art des Vertrauens es geht: nicht um einen einfachen Optimismus, sondern um ein Vertrauen, das uns Mut macht, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, unsren Blick zu schärfen und aufmerksam zu werden auf das Leid der anderen. In einem Wort: ein Vertrauen, das der Wirklichkeit nicht ausweicht. Viele haben noch nie auf diese Art über das Problem gesprochen. Einige fanden dabei auch einige Grundgedanken von Frère Roger wieder: Ein Christ muss Kampf und Kontemplation in seinem Leben zusammenbringen. Ein wahrhaftiges inneres Leben macht uns offen für das Leid des Nächsten und fähig, vor den Herausforderungen nicht davonzulaufen, sondern sie anzugehen. Der Erzbischof von Saint Louis betonte: „Viele sind von Angst gelähmt und wenden sich vom Leiden ab; sie überlassen die Arbeit der Heilung anderen. […] Ich habe die Hoffnung, dass dieser Pilgerweg nicht der Abschluss einer Gesprächsreihe über das Vertrauen sei, nicht das Ende eines Jahres der Vorbereitung und der Treffen, sondern dass dieser Pilgerweg ein Funke sei, der in uns den Wunsch entzündet, noch mehr lieben zu lernen, wahrhaftiger zu lieben.“ Die Unruhen von 2014 haben die Kirchen vor die Frage gestellt, wie sie sich bisher verhalten haben. Manche von ihnen gehen jetzt neue Wege, vor allem dank hervorragender schwarzer Pfarrer – mehrere von ihnen haben während des Pilgerwegs in Saint Louis Thementreffen gestaltet – und in der Katholischen Kirche in der landesweiten Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, die der Erzbischof Carlson nach dem Tod von Michael Brown wiederaufgenommen hat. Die Verantwortliche dieser Kommission, Marie Kenyon, hat nicht verheimlicht, dass in manchen Gegenden der Widerstand gegen diese Arbeit noch sehr groß ist.
Ein Marsch durch die Stadt
Den Höhepunkt des Treffens bildete zweifelsohne der „Marsch des Vertrauens“ durch mehrere Stadtteile von Saint Louis, an dem sich Christen aller Konfessionen sowie Juden und Muslime beteiligten. Um an diesem Marsch teilzunehmen, konnte jeder seinen Startpunkt selbst wählen: eine Synagoge im westlichen Stadtzentrum, die katholische Kathedrale (die Glocken läuteten zu Beginn des Marsches um 14 Uhr) oder eine presbyterianische Kirche im gleichen Viertel. Die verschiedenen Gruppen haben sich am Delmar Boulevard getroffen, dem traurigen Symbol für die Teilung der Stadt und die himmelschreiende Ungerechtigkeit. Der Unterschied bei der Lebenserwartung beträgt 18 Jahre, je nachdem, in welchem Stadtteil man wohnt!
Entlang des Delmar Boulevard konnten die Teilnehmer verlassene Gehsteige und leerstehende Häuser entdecken, die als Folge der Flucht der Weißen (white flight) langsam verfallende. Auf der Strecke gab es einen bewegenden Moment vor einer schwarzen Baptistenkirche, wo die Gläubigen die Teilnehmer des Marsches begrüßten. Es gab drei Stationen, an denen jeweils eine Person sprach. Auf dem Parkplatz neben dem Haus der Vinzentinerinnen haben hunderte Menschen Pastor Willis Johnson aus Ferguson zugehört. Seiner Ansprache folgte ein Gebet, das von einem Delegierten der benachbarten Baptistengemeinde gesprochen wurde. Weiter oben am Lindell Boulevard hatten sich etwa tausend Menschen auf dem Campus der von den Jesuiten gegründeten Saint Louis Universität zusammengefunden. Durch Zufall befindet sich auf dem Campus ein islamisches Zentrum. Die Brüder hatten mit den Verantwortlichen dort Kontakt aufgenommen und diese bereiteten der Menge einen freudigen Empfang: die muslimischen Gläubigen in verschiedenen Outfits verteilten Wasserflaschen an die Vorbeigehenden.
An der zweiten Station lauschten alle den starken und anregenden Worten von Amy Hunter, einer schwarzen amerikanischen Mutter, die in der Stadt für ihr Engagement für Gerechtigkeit, aber vor allem für ihr pädagogisches Geschick bekannt ist. Sie hatte beschlossen, die Teilnehmer herauszufordern: „Was macht ihr, wenn ihr wieder bei euch zu Hause seid? Wie werdet ihr euch für Veränderungen einsetzen?“ Während einer anderen Rede hatte Amy erzählt, was ihrem zwölfjährigen Sohn passiert war. Auf dem Heimweg wurde er von der Polizei verhaftet, nur einige Schritte von seinem Haus entfernt. Er kam danach ganz aufgeregt nachhause und erzählte: „Ich wollte zuerst weglaufen und nachhause rennen.“ Seine Mutter: „Gott sei Dank hast du das nicht getan!“ Die Fortsetzung des Dialogs zwischen den beiden:
- Er: „Aber Mama, warum hat man mich verhaftet, wo ich doch nur nachhause gelaufen bin.“ -* Sie: „Die Polizei nimmt viele schwarze Jugendliche fest.“
- Er , ein stolzer, zwölfjähriger Junge wollte seine Gefühle: „Aber wie lange wird das so weitergehen?“
- Sie atmete tief durch und sagt ihrem Sohn ganz offen: „FÜR DEN REST DEINES LEBENS!“
Als sie diesen Satz während ihrer Konferenz aussprach, stockte allen der Atem. Am Samstagnachmittag hatte Amy außerdem ein Thementreffen gestaltet.
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An der dritten Station sprach ein Rabbiner. Seine Worte wiesen in die Zukunft: Wie können kleine Kinder darauf vorbereitet werden, eine Identität zu entwickeln, die sich durch ein „wir“ auszeichnet und nicht mehr durch ein „die anderen und wir“? Mit viel Feingefühl sprach er über die Initiative „We Stories“ und die Auswirkungen dieser Pädagogik auf seine eigenen Kinder, vor allem auf die jüngste Tochter. Diese Initiative richtet sich insbesondere an weiße Familien, die oft in einer „Seifenblase“ leben und die ethnische Vielfalt in ihrer Umgebung gar nicht bemerken.
Anschließend hatten alle Marschierenden die Chaifetz Arena betreten, eine große Sporthalle am äußeren Süden des Universitätsgeländes. Der Ansprache des Erzbischofs folgte die Rede einer großen Persönlichkeit des schwarz-amerikanischen Christentums: Pastorin Traci Blackmon, eine frühere Beraterin von Barack Obama für Rassismus-Fragen. Pastorin Blackmon war während der Geschehnisse in Ferguson und viele sind der Meinung, dass es ihr zu verdanken ist, dass die Situation nicht in ein totales Chaos ausgeartet ist. Die Stimme von Traci Blackmon hört man immer dann, wenn Arme schlecht behandelt werden oder der Rassismus sein Unwesen treibt. In ihrer Ansprache hob sie hervor, wie wichtig es ist, an mehreren Fronten gleichzeitig zu agieren. „Systemische“ Veränderungen sind nötig, weil das System die Ungerechtigkeit noch fördert. In bemerkenswerter Weise betonte sie auch die persönlichen Veränderungen, ohne die es zu keinen Veränderungen des Systems kommen kann.
„Das Werk, das hier vollbracht wird, ist ein heiliges Werk, es ist das Werk Gottes, ein Werk des Sammelns, des Betens, nicht nur mit unseren Lippen, sondern auch mit unseren Füßen. Es ist in der Tat ein Anfang. Ich entdecke an diesem Ort ein Gespräch, das Verbindungen entwickelt, die zu Freundschaften und zu dauerhaften Veränderungen führen werden.“
Und was kann man nun tun?
Am Montagmorgen hatten sich alle am herrlich gestalteten Gebetsort eingefunden, der im Untergeschoss des Studentenzentrums der Saint Louis Universität hergerichtet war. Nach dem Gebet, in dem sich Taizégesänge mit Gesängen der schwarzen Amerikaner mischten, in die die Menge immer wieder einstimmte, wendeten sich alle der Frage zu: „Und was kann man nun tun?“ Vier Arbeitsgruppen wurden geformt, in denen alle eingeladen waren, auf diese Fragen zu antworten:
-* Wer möchte die Abende des Vertrauens in Saint Louis weiterführen?
- Wer möchte über systemische Veränderungen nachdenken?
- Wer möchte weiterhin die Grenzen überschreiten, die uns trennen?
- Wer möchte denen beistehen, die in unseren Gesellschaften am meisten Schutz bedürfen?
Ja, dieser Pilgerweg ist nur ein Anfang, ein bescheidenes Gleichnis, das dazu aufruft, weitere Initiativen in nah und fern anzuregen.