TAIZÉ

April 2016

Rettung im Mittelmeer

 
Céline aus Montpellier hat in Valencia beim Europäischen Treffen von ihrer Arbeit als junge Krankenschwester in Indien, Tansania und zuletzt im Flüchtlingslager von Calais erzählt. Seither arbeitete sie mit einem Team von Ärzte der Welt auf dem Rettungsschiff „Aquarius“. Seit Kurzem ist sie wieder zu Hause und wird Ende August am Wochentreffen für Jugendliche von 18 bis 35 Jahre teilnehmen.

Samstag, 16. April

Favila, die ärztliche Leiterin unseres Schiffs, weckt mich um 5.00 Uhr früh: „Céline, aufstehen! In einer Stunde geht es los!“ Auf der „Aquarius“ verlässt sich niemand mehr auf solche Zeitangaben; zu oft überstürzen sich die Ereignisse. Um 3.30 Uhr war der Notruf eingegangen. Das Unangenehme ist, dass wir noch keine Erfahrung mit Rettungseinsätzen bei Nacht haben. Aber zum Glück geht bereits die Sonne am Horizont auf, sodass man sich im Morgengrauen etwas orientieren kann.

Am Zielort das Übliche: Ein Schlauchboot , das man üblicherweise als Spielzeug auf dem Wasser benutzt mit 116 Menschen an Bord, davon 20 Frauen und ein 15 Monate altes Mädchen. Einige der Insassen haben seit zehn Tagen Schussverletzungen, sie sind seit gestern Abend auf dem Meer unterwegs und stehen alle unter Schock.

Kaum hatten wir alle Menschen an Bord, kommt die Meldung, dass die „Aquarius“ noch eine weitere Gruppe von Flüchtlingen übernehmen muss, die von einem Schiff der Italienischen Marine aufgefischt wurden. Alles muss sehr schnell gehen. Wir stellen erleichtert fest, dass bei uns an Bord alles von Tag zu Tag besser läuft – die Erfahrung macht sich bezahlt! Wir bringen die Frauen und Kinder ins Innere und die Schwächsten in einen Nebenraum. Die Übrigen bleiben an Deck.

Routinemäßig wird bei allen Neuankömmlingen die Körpertemperatur gemessen, aber es ist so kalt, dass das Fieberthermometer bei mir selbst nur 35,3°C anzeigt … Dann werden die Personalien aufgenommen, Decken und ein Kit mit Sanitärartikel verteilt, und es gibt etwas zu essen.

Nach unserem letzten Rettungseinsatz hatten wir die Menschen fast drei Tage an Bord, diesmal sind es nur drei Stunden. Maryse, meine Kollegin, und ich sind fast enttäuscht, dass wir keine Zeit hatten, den Menschen zuzuhören! Nach der Übergabe bringen wir mit letzter Kraft das Boot wieder in Ordnung für den nächsten Einsatz. Draußen wird es stürmisch und das bedeutet für uns: Morgen werden wir wohl niemanden retten können …


Sonntag, 17. April

Gegen 12.00 Uhr gehen wir davon aus, dass uns heute kein Rettungseinsatz erwartet: Das Meer ist zu aufgewühlt und „die Zeit ist vorüber“. Wir ruhen uns jetzt von den Strapazen des Vortages aus. Doch um 17.00 Uhr wird plötzlich Alarm gegeben. Jeder von uns stellt sich im Stillen darauf ein, was uns diesmal erwartet: Flüchtlinge, die schon viele Stunden im Wasser treiben und von denen sicher nicht mehr alle am Leben sind.

An der angegebenen Position ist kein Schlauchboot. Zusammen mit zwei anderen Schiffen nehmen wir die Suche auf. Ein Kreuzfahrtschiff sichtet das Boot als Erstes, ist aber technisch nicht in der Lage, Menschen aus Seenot zu retten. Also müssen wir wieder ran! Es ist sehr schwer, ein untergehendes Schlauchboot zu finden – ein Alptraum. Seegang mit zwei Meter hohen Wellen macht uns die Sache nicht leichter: Wir konnten 108 Menschen, darunter fünf Frauen, retten. Unsre Rettungsschwimmer bergen sechs Leichen aus dem Inneren des Bootes. Andere ertrinken vor ihren Augen … und viele andere sind bereits vorher ertrunken. Das Boot war um 9.00 Uhr abgefahren und bereits nach einer Stunde verlor es Luft.

Wir hatten dieses Mal noch nicht einmal Zeit, Schwimmwesten zu verteilen. Die Flüchtlinge waren in einem sehr schlechten Zustand, einige litten unter Wahnvorstellungen und wir mussten ihnen zuerst einmal Beruhigungsmittel geben. Viele wurden völlig nackt an Bord gehievt – buchstäblich „wie aus dem Wasser gezogen“. Ich kümmerte mich unterdessen im Inneren um die Schwächsten und half ihnen beim Ausziehen, damit sie sich aufzuwärmen konnten und weil sie voller Diesel waren.

Ich wickelte jeden Einzelnen in eine Rettungsdecke und versuchte, sie so eng wie möglich zusammenzulegen, damit sie sich gegenseitig wärmen konnten. Das war sehr schwer: Viele hatten am Unterkörper und an den Beinen schwere Verbrennungen. Manche schrien vor Schmerzen, doch ich konnte nichts tun, denn es ging nur darum, so viele wie möglich durchzubringen. Ein Mann suchte überall nach seiner Frau. Ich begriff schnell, dass sie nicht mehr unter uns war … Wir mussten auch zwei Jugendliche getrennt versorgen, deren Bruder vor ihren Augen ertrunken war.

Auch diesmal hatte einer der Jugendlichen zahlreiche Schussverletzungen, die noch keine Woche alt waren und von denen eine nur knapp die Lunge fast streifte. Zum Glück waren diesmal keine Kinder dabei – abgesehen von den Ungeborenen … Ich war erleichtert als es hieß, wir würden sofort Lampedusa anlaufen, denn bis dorthin war es nicht mehr weit.

Heute ist die Schicht um 13.00 Uhr zu Ende, unsere Gesichter sind noch gezeichnet von all der Not und Trauer, die wir erlebt haben. Doch zeigt sich auch schon wieder das eine oder andere Lächeln. Wenn nur die Leute, denen diese Menschen in der nächsten Zeit begegnen, sie freundlich aufnehmen und gefühlvoll mit ihnen umgehen! Sie haben Unbeschreibliches durchgemacht!

Oft werden wir nach dem Alter der Flüchtlinge gefragt: Die meisten von ihnen sind zwischen 15 und 25 Jahre. Manche sind älter, aber manche auch jünger. Wir achten sehr darauf, dass die Journalisten erst um Erlaubnis bitten, bevor sie Fotos machen oder die Menschen befragen, und dass sie den Flüchtlingen nicht zu nahe treten. Gleichzeitig sind wir froh, wenn die Öffentlichkeit darüber informiert wird, was im Mittelmeer wirklich los ist.

Im Augenblick nehmen wir Kurs auf Trapani, auf Sizilien, um uns etwas auszuruhen, denn auch von uns stehen einige noch unter Schock, vor allem die, die zusehen mussten, wie Menschen vor ihren Augen ertrinken, und die nur noch die Leichen bergen konnten. Ich möchte euch bitten, an die Flüchtlinge zu denken und für sie zu beten. Und ich möchte euch auch all die Menschen anvertrauen, deren Herzen verhärtet sind, dass sie weicher werden und sich dem Leiden anderer nicht verschließen.

Letzte Aktualisierung: 26. Mai 2016