Mein erster Weg in Japan führte mich zu Michio, der während des Tsunami als junger Freiwilliger in Taizé war. Er kehrte damals in sein Land zurück und ist seither für eine Caritas-Station in einem der betroffenen Gebiete zuständig. Das Erdbeben liegt mittlerweile fünf Jahre zurück und es gibt nur noch wenige freiwillige Helfer. Die Not der Menschen droht in Vergessenheit zu geraten.
Doch es gibt noch Arbeit für viele Jahre. Ich habe einen Sonntag mit alten Menschen verbracht, die sehr einsam in Notunterkünften leben. Manche konnten ihre Häuser wieder aufbauen, aber nicht am gleichen Ort, um vor einem weiteren Tsunami sicher zu sein. Überall Baustellen: Straßen, Brücken … Ein halber Berg wurde abgetragen, um das Bodenniveau wieder anzugleichen.
Wir haben in den Notunterkünften Blumen gepflanzt als kleines Zeichen der Versöhnung zwischen den Kindern und den alten Menschen. Gleichzeitig wollten wir etwas Kreatives mit den Kindern unternehmen. So gingen wir Blumen kaufen, um ganz einfach Zeit mit diesen Menschen zu verbringen.
Dann ging es weiter in die Gegend von Fukushima zu Ryousen, einem freikirchlichen Pastor. Er war ebenfalls vor vielen Jahren für längere Zeit in Taizé, zu einer Zeit, als Brüder der Communauté in Japan lebten. Man hatte ihn gebeten, eine kleine Kirche in der Gegend zu übernehmen, die völlig abgelegen im Wald liegt. Zur Gemeinde gehört ein Kindergarten. Die Geburtenrate ist in Japan weiterhin stark rückläufig und viele Kindergärten müssen schließen. Der Kindergarten von Ryousen dagegen hat in dieser ländlichen Gegend über 100 Kinder. Obwohl der Ort 80 km vom Atomkraftwerk entfernt liegt, ist im Haus ein Geigerzähler installiert. Im Dorf sind an verschiedenen Stellen Plastiksäcke mit radioaktiver Erde abgestellt, für die es keine Lagerstätte gibt.
In einer solchen Situation hat die Frage, die Frère Alois am Ende der Einführung seiner „Vorschläge für 2016“ stellt, eine ganz besondere Aktualität: „Wie können wir den Mut der Barmherzigkeit, des Mitleidens und der Ausdauer in der Solidarität finden?“
Das Gebet gibt sicherlich eine Antwort: In Yonekawa betet Michio treu jeden Morgen mit anderen, bevor er zur Arbeit fährt. Ein anderes Beispiel sind die vielen Jugendlichen und Erwachsenen, die bei den „Schwestern vom Kinde Jesu“ in Yotsuya regelmäßig zum Gebet zusammenkommen. Für Menschen wie sie wurde in Japan ein Einkehrtag mit all denen organisiert, die bei sich zu Hause gemeinsame Gebete vorbereiten.
Ein Erdbeben, das genauso stark war wie 2011, ereignete sich in Kumamoto. Dies war eine weitere Etappe meiner Reise. Auch dort findet man überall eine große Solidarität. Wieder fragte ich mich, wie ich die Hilfsbereitschaft der Menschen stützen könnte, die angesichts der Ausmaße der Zerstörungen völlig unbedeutend zu sein scheint. Gemeinsame Gebete mit den Studenten der Sophia-Universität in Nagasaki und einer Hochschule in Yokohama gaben die Gelegenheit, all die Opfer der Naturkatastrophen der letzten Zeit der Barmherzigkeit Gottes anzuvertrauen.
Eine weitere Antwort ist es, sich Zeit zu nehmen, mit anderen tiefer über diese Frage nachzudenken. In einer kleinen anglikanischen Kirche in Ikebukuro (Tokio) fand ein Austausch mit jungen Menschen statt, die an verschiedenen Europäischen oder Asiatischen Jugendtreffen teilgenommen haben. Die Gespräche waren sehr offen und realitätsbezogen.
Aber auch das Hören auf das Wort Gottes kann ungeahnte Energien freisetzen. Während eines Einkehrtags mit Studenten der Kwansei-Gakuin-Universität haben wir das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter anhand der Barmherzigkeitsikone von Taizé gelesen. Sechs verschiedene Gesprächsgruppen haben versucht, jeweils eines der Bilder der Ikone in die heutige Situation zu übertragen und die Ergebnisse des Nachdenkens für die anderen mimisch darzustellen. Diese kurzen Szenen führten den Anwesenden ihren Alltag deutlich vor Augen und zeigten, dass wir unsere inneren Widerstände und Ängste auch überwinden und für andere zu einem Barmherzigen Samariter werden können.
Die Mitarbeiter im Vorbereitungsbüro in Tokio für die Teilnehmer der „Weltjugendtage“ zeigten großes Interesse an den „Vorschläge für 2016“ und sie möchten sie zur Vorbereitung der jungen Japaner benutzen, die im Juli nach Krakau reisen werden.