TAIZÉ

Bosnien-Herzegowina: September 2010

Sarajevo - eine verletzte Stadt voller Hoffnung und Freundlichkeit

 
Ruth aus Deutschland hat am Treffen in Sarajevo teilgenommen. Hier ihr Bericht:

Sarajevo - eine Stadt, die Bücher und Film vor allem als ethnisch zerrissen, ausgebombt, traumatisiert und belagert darstellen.
Doch die Stadt beweist, dass sie sehr viel mehr als diese Bilder aufzuweisen hat. Das ist für mich bereits spürbar, als es im Landeanflug auf die Stadt hinabgeht: die sanften grünen Hügel umgeben einen Platz, der an einem sonnigen Tag von Licht überströmt ist, wo Menschen auf den Straßen unterwegs sind und in den zahlreichen Cafés sitzen und die schmalen Türme der Moscheen dem westeuropäischen Besucher eine orientalischen Atmosphäre eröffnen.

Wenn man mit offenen Augen unterwegs ist und die zahlreichen Mahnmäler an den Straßen, Ecken und Gebäuden wahrnimmt, die zerfallenen Häuser sieht und wenn man aufmerksam den Worten der Gastgeber zuhört, ist es jedoch eine Stadt mit einer Geschichte, die die schönen grünen Hügel in eine ganz andere Szenerie verwandeln kann.

Und dennoch ist Sarajevo eine Stadt, in der Jugendliche monatelang mit Vorbereitungen beschäftigt waren, um mehrere hunderte junge Menschen zu einem Wochenende des Gebets und Miteinanderteilens zu empfangen - ein neuer Schritt auf dem Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde.

Ich war schon einige Tage frueher da, und konnte beim Empfang der ersten 120 Freiwilligen dabei sein, die einen Tag früher anreisten, um bei den letzten Vorbereitungen für das Treffen zu helfen. Das einfache, gemeinsame Mittagessen aus Brot, Früchten, Gemüse und ein wenig Käse verbreitete eine beinahe festliche Atmosphäre. Am Nachmittag beginnt eine kleine Gruppe dann, die Gesänge für das Gebet zu proben. Einige besuchen eine Gesprächsgruppe über einen Bibeltext, andere zeichnen Schilder und wieder andere empfangen die Neuankömmlinge. Mittags und abends legen wir unsere Arbeit für einen Moment beiseite und gehen in die benachbarte Kirche, um zu beten. Mit den Neuankömmlingen klingen die Gesänge noch kraftvoller und meine Vorfreude auf die kommenden Tage wird immer größer.

Während die Gemeinden mehr als 600 Teilnehmer aufnehmen, arbeiten wir am nächsten Morgen in der Olympiahalle, Skenderija, um die dortige Sporthalle in einen Gebetsraum zu verwandeln. Es ist faszinierend, diesen Wandel mitzuverfolgen: wie einige orangefarbene Stoffbahnen, Ikonen und Kerzen solch einen Unterschied ausmachen können! Vielleicht ist es genau das, was ich in dieser Stadt lernen kann: im Prinzip haben wir bereits alles, was wir benötigen, um für andere etwas vorzubereiten und um zusammen zu sein. Ob es die zwei Quadratmeter Platz auf dem Fußboden sind, die ein Gast zum Schlafen braucht oder die Plastikkisten vom Café nebenan, die, bedeckt mit etwas Stoff, zu Kerzenständern werden.

Nach dem ersten gemeinsamen Gebet verbringen einige den Nachmittag in intensiven Diskussionen in den Kleingruppen. Früher oder später besuchen viele auch die Stadt – für einen Spaziergang in der Altstadt, Baščaršija, oder um Kaffee zu trinken und sich zu unterhalten. Das schöne Wetter ist auch ein Geschenk. Somit kann das Essen unter freiem Himmel ausgeteilt werden, vor Skenderija, wo wir ein traditionelles „Grah“ in der Abendsonne genießen, bevor wir uns wieder in der Gebetshalle versammeln.

Nach einem Morgenprogramm in den Gastgemeinden, sowie Mittagessen und -gebet in Skenderija, teilen wir uns am Samstagnachmittag in Gruppen auf, um an einem der neun Workshops teilzunehmen. Ihre Vielfalt ist ein lebendiges Bild der Stadt selbst: die Entdeckung des jüdischen, muslimischen oder orthodoxen Lebens in Sarajevo, ein Treffen mit einem Angehörigen des interreligiösen Rates oder ein Gespräch mit der bekannten bosnischen Regisseurin Jasmila Zbanić. Ich entscheide mich für den Besuch der islamischen Fakultät, um mehr über die Religion zu lernen, die in Sarajevo den Großteil der Bevölkerung ausmacht und deren Anhänger momentan den Fastenmonat Ramadan halten.

Obwohl die Fakultät gewöhnlich zu dieser Zeit des Jahres geschlossen bleibt, werden wir von einem Mitarbeiter herzlich begrüßt, der eine kurze Einführung über den Islam gibt. Er versichert uns, dass es keine Tabuthemen geben wird und eröffnet das Forum für Fragen. Die Gruppe, bestehend aus jungen und älteren Leuten kann den Fragefluss kaum unterbrechen: einige haben praktische Fragen, beispielsweise über den Ramadan und über Bajram, andere haben politische Fragen, wie die Rolle der Religionen in Konflikten und nicht zu vergessen die Fragen zum geistlichen Leben.

Der Wunsch, mehr über den Islam zu erfahren, scheint bei vielen sehr aktuell zu sein, sodass wir uns am Ende beeilen müssen, um nicht unseren nächsten Programmpunkt zu verpassen: das abendliche Vespergebet in der alten orthodoxen Kirche. Die Kirche ist klein und schnell überfüllt. Was für eine Freude, so viele junge Menschen aus den verschiedenen christlichen Traditionen hier versammelt zu sehen. Bald füllt sich die Kirche mit den wunderschönen orthodoxen Gesängen einer Gruppe junger Männer und die Luft wird schwer vom Weihrauch. Da wir bereits das „Bogoroditse Dievo“ kennen, ist es einfach, in das gesungene „Gegrüßet seist du, Maria“ einzustimmen. Nach anfänglichem Zögern folgen am Ende des Gebets mehr und mehr junge Menschen der Einladung, in die Mitte der Kirche zu kommen, um ein Stück gesegnetes Brot zu empfangen. Das ist eine Geste, die in einer Stadt, in der religiöse Verschiedenheiten die Quelle für so viel Leid waren, noch mehr Bedeutung hat. Wie schön auch, dass wir nach dieser Erfahrung von Gemeinschaft unsere Gastgeber Kardinal Vinko Puljić und Metropolit Nikolaj für das Abendgebet in Skenderija empfangen können.

Nach der Morgenliturgie in den Gemeinden und nach dem Mittagessen mit den Gastfamilien kommen wir am Sonntag zu einem letzten Gebet in der Kirche Sv. Josip in Marijindvor zusammen. Viele der jungen Pilger tragen große Lunchpakete, die sie von ihren Gastfamilien für ihre Heimreise mitbekommen haben. Jeder war in diesen Tagen in einer Familie aufgenommen worden und einige sagen, dass es ihnen nicht leicht fiel, sich zu verabschieden.

Während des Gebets bringen die Bibellesungen und die Schönheit der Gesänge abermals ein Gefühl der Freude, beisammen zu sein. Und ich kann mir nicht helfen, aber ich spüre eine gewisse Traurigkeit, dass es schon wieder für alle Zeit ist, nach Hause zu fahren. Auf der anderen Seite denke ich, wie viel Hoffnung aus dieser gemeinschaftlichen Erfahrung gewonnen werden kann, die wir in den letzten Tagen genossen haben!

„Sarajevo – eine verletzte und zerrissene Stadt“, so schrieben es Kardinal Puljić und Metropolit Nikolaj in ihrem gemeinsamen Einladungsbrief zum Treffen, und sie fügten hinzu: „aber auch voller Hoffnung und Freundlichkeit“. Es ist genau das, was wir in diesen Tagen des Treffens erleben durften und es ist nun die Herausforderung, dies nach Hause in unsere Länder und Städte zu tragen, in unseren Alltag.

Letzte Aktualisierung: 12. Januar 2024
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