TAIZÉ

Lesbos 2016

Sie haben alles zurückgelassen

 
Sara Sofia, eine junge Portugiesin, die längere Zeit in Taizé mitgelebt hat, arbeitet zurzeit in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. Hier ihr Bericht, während Papst Franziskus, Patriarch Bartholomäus und der Erzbischof von Athen, Hieronymos, gemeinsam auf die Insel kommen, um Flüchtlinge zu besuchen.

„Ich arbeite als Freiwillige in einem Flüchtlingslager auf Lesbos in Griechenland. Eine Arbeit besteht im Wesentlichen darin, Kleidung, Schuhe und Kulturbeutel an die Menschen zu verteilen, die die gefährliche Überfahrt von der Türkei nach Griechenland hinter sich haben – oft mit alten Schwimmwesten in aufblasbaren Plastikbooten.

Ich habe mittlerweile unzählige Geschichten dieser Menschen gehört, die mir immer noch im Kopf herumgehen, auch wenn die Menschen die Insel längst wieder verlassen haben, auf der Suche nach einer Bleibe irgendwo auf dem Kontinent.

Einer von ihnen, ein kleiner Junge aus dem Iran, träumte davon, in Europa Freunde zu finden und einmal wieder auf der Straße Fußball zu spielen. Er fragte mich, ob die Menschen in Europa denn nett wären und ob er eines Tages wieder in die Schule gehen könne.

Ich habe auf diese Weise auch eine Frau kennengelernt, die mit ihrem kleinen Sohn unterwegs war, der von Drogenhändlern mehrmals unter Drogen gesetzt und missbraucht wurde. Die Frau erzählte mir, dass ihr oft nur der Mut gefehlt hat, sich und ihrem Sohn das Leben zu nehmen, um all dem Leid ein Ende zu setzen, das sie auf der Flucht erlebte.

Einmal habe ich mit ein paar Kindern Bilder gemalt und ein kleines Mädchen streckte mir ihre Zeichnung entgegen: die Familie in ihrem Haus, auf das gerade Bomben herunterfallen. Andere malten ihr Boot auf dem Meer – die Menschen auf dem weinen, während ringsherum die Leute im Meer ertrinken.

Es ist schwierig, meine Erfahrungen hier in Worte zu fassen. Manchmal muss ich nachts einen warmen Platz für 200 Personen finden, die darauf warten, registriert zu werden – bei -5°C im Schnee. Ein anderes Mal wollten Kinder mit eiskalten Füßen Schuhe haben, aber ich hatte selbst nur noch zwei Paar, und die musste ich für die aufheben, die ganz ohne Schuhe ankamen. Manchmal konnte ich den Neuankommenden kein Trinkwasser geben, weil ich nur noch drei Flaschen hatte, die ich für stillende Mütter aufheben wollte. Ich frage mich manchmal, wie oft im Leben mich diese Entscheidungen noch verfolgen werden.

Einmal fragte mich ein Flüchtling, ob mir bewusst wäre, dass ich gerade Muslimen helfe. Er dachte wohl, ich würde sofort aufhören, ihm zu helfen, wenn ich seine Religion erführe. Wie soll ich ihm erklären, dass es keinen „Du“ und „Ich“ gibt, sondern nur ein „Wir“? Ich glaube, dass mir dieser Gedanke hilft, weiterzumachen.“


Vor Ostern kündigte Frère Alois an, dass „in diesem Jahr jede Woche ein eigenes Treffen für Jugendliche stattfinden wird, die in verschiedenen Ländern Flüchtlingen helfen. Und in der Woche vom 28. August bis 4. September, die jungen Menschen zwischen 18 und 35 Jahren vorbehalten ist, wird besonders auf die Frage der Migration eingegangen.“
Letzte Aktualisierung: 16. April 2016